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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0203
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Abt. ii. Tafel 28. Zusammengesetztes, gefiedertes Blatt.
Hülsenblättrige Mahonie, MaJionia Aquifolium (Vorderseite in natürlicher Grösse. Rückseite
in doppelter Grösse).
Die Mahonie giebt das Beispiel eines zusammengesetzten, unpaarig gefiederten
Blattes. In Anordnung und Proportionen zeigt es dieselben Erscheinungen, wie die fiederspaltigen
Blätter, nur dass es in vollständig getrennte Fiederblättchen zerschnitten ist, welche an den beiden
Seiten der Mittelrippe als des gemeinsamen Blattstieles symmetrisch ansetzen; der Kopf des Blattes
wird durch ein vertikal gestelltes Blättchen gebildet, welches in seiner Mittelrippe die Stielrichtung
fortsetzt. Die Rippen der dorniggezähnten Fiederblättchen sind kräftig konkav nach oben geschwungen,
die Blattfläche von konvexer Bildung. Bei älteren Blättern biegen sich, wie in vorliegendem Bei-
spiele auch die Blattränder zwischen den Zähnungen zurück, was der Rückseite des Blattes ein kräftiges
Relief giebt. Besonders deutlich spricht sich der konstruktive Bau der Mittelrippe aus und die knochen-
gelenkartige Bildung derselben an den Abzweigungsstellen der flügelartig ansetzenden Blättchen.
Die strammen Detailformen des Blattes und seine kräftigen Schwingungen machen es zu orna-
mentaler Verwendung sehr geeignet.
Ein anderes Beispiel zusammengesetzter Blätter, deren Fiederungen sich mit Stielchen ent-
wickeln, giebt Tafel 61. Mannigfaltige Formen dieser Anordnung finden sich bei den Erbsen- und
Wickenarten, bei der Akazie, der Waldrebe, der Bibernelle, dem Schöllkraut, Rainfarn, Reiherschnabel;
bei der Kresse und roten Wucherblume, dem Jakobskraut und gemeinen Wiesenknopf, dem Aklei, dem
Paradiesapfel, bei der Ackermennige, Fumaria und bei vielen Doldenpflanzen. Mehr oder minder ge-
spaltene Fiederblätter zeigen der Mohn, das Eryngium, Chrisanthemum, Hieraceum, Cirsium, der
Crepis, die Cichorie und Artemisie und eine Menge anderer den Kopfblütlern angehörige Gewächse.
Die meisten Blätter dieser nordischen Pflanzen sind seit dem Mittelalter ornamental benutzt
worden, sowenig aber die antike Kunst reine Porträtbilder von Blattformen gab, so vermied auch die
mustergültige Ornamentik späterer Stilperioden eine unmittelbare Nachbildung der natürlichen Blatt-
erscheinung. Wohl wurde die Individualität der einzelnen Formen soweit benutzt, als sie der eigen-
artigen und lebendigen Gestaltung des Ornamentes zu Hilfe kam, aber die Schranke nicht über-
schritten, welche die Rücksicht auf die eigentliche Aufgabe der künstlerischen Komposition, auf den
Sinn und die Darstellungsmittel der Kunstform gebot. Diese Rücksicht zwang den Künstler, nicht so-
wohl, alles für diese Bedingungen Unwesentliche und ihnen Widersprechende von ihren Formen abzu-
lösen, sondern auch die Bildungen verschiedener Blätter frei schöpferisch zusammenzufügen, wenn das
einzelne Vorbild seinem Zwecke nicht genügte. So streifte z. B. das fiederteilige Blatt des gotischen
wie des antiken Ornamentes seinen Stiel ab und modelte bald seinen Kopf, bald seinen Fuss um, wenn
es die besonderen Bedingungen des Ornamentes verlangten, so wechselte es die Lage der Nervatur,
um das Linienschema einer Kunstform fortzusetzen, der es sich anzureihen gezwungen war. Bald
mussten sich Lappen und Buchtungen eines vielgliedrigen Blattes mit Rücksicht auf den gebotenen
Massstab und die Übersichtlichkeit der Schmuckform vereinfachen und verringern, bald ihre Bildung
sich den andersartigen Formenelementen des Gesamtornamentes anbequemen, die schlichte Silhouette
des einen Blattes, welche in Liniament und Massenverteilung den Bedingungen einer Kunstform ent-
sprach, musste dagegen die Randbildung eines reichergegliederten zu Hilfe nehmen.
 
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