Altfranzösische Klosterhanöschrift.
Manuskript von ca. 1430. Papier, 996 Seiten fol., von denen vier
unbeschrieben, mit vielen buntgemalten Initialen. In altem Einband
mit eingepressten Wappen. Vorzüglich erhalten. 1000.—
Die Handschrift zerfällt in drei Teile, von denen der erste eine kom-
pilatorische Uebersicht über die römische Geschichte enthält, von der Grün-
dung der Stadt bis in die ersten nachchristlichen Jahrhunderte. Der Schreiber
hat die Quellen, auf denen seine Kompilation beruht, nur oberflächlich an-
gegeben; für die vorchristliche Zeit nennt er vor allem Livius und Sallust,
für die nachchristliche den frühmittelalterlichen Presbyter und Geschicht-
schreiber Orosius. Diese nachchristliche Zeit bildet den wichtigsten Abschnitt
des geschichtlichen Teils, da sich der Verfasser hier vielfach auf verlorenes
Material stützt. Deutlich lassen sich nur die Berührungen mit der „vita Sil-
vestri“ nachweisen, die wie in vielen französischen Handschriften des Mittel-
alters, so auch hier eine mehr oder weniger veränderte Wiedergabe gefunden
hat. (Vgl. hierzu L e v i s o n, Konstantinische Schenkung und Silvester-Legende).
Durch die Verwertung unbekannten Materials gewinnt die vorliegende
Handschrift eine besondere Bedeutung für die Geschichte des Judentums
in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten, denn wenn auch das
Christentum den schliesslichen Sieg über das Judentum davontrug, so lässt
sich doch die hohe Wertschätzung nicht verkennen, die in den Blättern dieser
Handschrift dem Judentum zu Teil wird — „die beste aller Religionen“ wird
es von der Kaiserin Helena genannt, als sie ihrem zum Christentum über-
getretenen Sohn, dem Kaiser Konstantin den Wunsch ausspricht, dass er zum
Judentum wieder zurückkehren möge. — la royne helayne.. man da.,
quetropluideplaisoit dece quilse fu convertyalafoydu
cruchefye en lui pryant moult affectueusement quil se vouL
sist tourner a la foy des juifz laquelle scelon son samblant
estoit la milleur et la plus sceure de tous les autrez. ...“
Der zweite Teil der Handschrift besteht aus philosophischen Ab-
handlungen über die vier Kardinaltugenden, wobei die Lehren der griechischen
Philosophie mit denen des Christentums in engen Zusammenhang gebracht
sind. Von besonderem Interesse ist es dabei, den tiefen Einfluss zu verfolgen,
den die Mystik des ausgehenden Mittelalters auf diese Betrachtungen ausge-
übt hat, und in den wildverworrenen Zeiten des 15. Jahrhunderts den Grund
für die müde Stimmung des Verfassers zu erkennen, dem Weltflucht und
religiöse Versenkung in das Ewige als einziges Ziel menschlichen Strebens
und irdischen Seins erscheinen.
Von dem gleichen Geiste sind auch die 140 Verse erfüllt, diesen
Schluss des Bandes bilden und als dichterisches Erzeugnis aus der
Frühzeit französicher Literatur eine hohe Bedeutung beanspruchen
können. Am Ende dieser Verse hat der Schreiber des Buches, das er nach
der Sitte alter Mönchshandschriften mit der Bitte um ein Gebet für sein
Seelenheil schliesst, seinen Namen, „le nom de lacteur“, in Rätselform ver-
borgen. Um einen Einblick in die Versgewandtheit des unbekannten Ver-
fassers der Handschrift zu gewähren, seien die letzten Verse dieses heute
unlösbar gewordenen Rätsels hier wiedergegeben:
comme on trent la grappe en la vigne
trouverez ce que je vous dis
se prendez de chacune ligne
la lettre premiere toudis
mais pas ne serez bien apris
.se vous ne les joindez ensemble
chose esparse est de petit pris
qui ne la recneille et assamble
quattre unis lignes dix et sept
dont quattre bastons font memors
nous ensengnent comment on scet
ce que dit est et mieulx encore.“
Hellmut Meyer & Ernst, Berlin W 35, Lützowstr.29
Druck von G. Otto, Heppenheim a. d. B.
Manuskript von ca. 1430. Papier, 996 Seiten fol., von denen vier
unbeschrieben, mit vielen buntgemalten Initialen. In altem Einband
mit eingepressten Wappen. Vorzüglich erhalten. 1000.—
Die Handschrift zerfällt in drei Teile, von denen der erste eine kom-
pilatorische Uebersicht über die römische Geschichte enthält, von der Grün-
dung der Stadt bis in die ersten nachchristlichen Jahrhunderte. Der Schreiber
hat die Quellen, auf denen seine Kompilation beruht, nur oberflächlich an-
gegeben; für die vorchristliche Zeit nennt er vor allem Livius und Sallust,
für die nachchristliche den frühmittelalterlichen Presbyter und Geschicht-
schreiber Orosius. Diese nachchristliche Zeit bildet den wichtigsten Abschnitt
des geschichtlichen Teils, da sich der Verfasser hier vielfach auf verlorenes
Material stützt. Deutlich lassen sich nur die Berührungen mit der „vita Sil-
vestri“ nachweisen, die wie in vielen französischen Handschriften des Mittel-
alters, so auch hier eine mehr oder weniger veränderte Wiedergabe gefunden
hat. (Vgl. hierzu L e v i s o n, Konstantinische Schenkung und Silvester-Legende).
Durch die Verwertung unbekannten Materials gewinnt die vorliegende
Handschrift eine besondere Bedeutung für die Geschichte des Judentums
in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten, denn wenn auch das
Christentum den schliesslichen Sieg über das Judentum davontrug, so lässt
sich doch die hohe Wertschätzung nicht verkennen, die in den Blättern dieser
Handschrift dem Judentum zu Teil wird — „die beste aller Religionen“ wird
es von der Kaiserin Helena genannt, als sie ihrem zum Christentum über-
getretenen Sohn, dem Kaiser Konstantin den Wunsch ausspricht, dass er zum
Judentum wieder zurückkehren möge. — la royne helayne.. man da.,
quetropluideplaisoit dece quilse fu convertyalafoydu
cruchefye en lui pryant moult affectueusement quil se vouL
sist tourner a la foy des juifz laquelle scelon son samblant
estoit la milleur et la plus sceure de tous les autrez. ...“
Der zweite Teil der Handschrift besteht aus philosophischen Ab-
handlungen über die vier Kardinaltugenden, wobei die Lehren der griechischen
Philosophie mit denen des Christentums in engen Zusammenhang gebracht
sind. Von besonderem Interesse ist es dabei, den tiefen Einfluss zu verfolgen,
den die Mystik des ausgehenden Mittelalters auf diese Betrachtungen ausge-
übt hat, und in den wildverworrenen Zeiten des 15. Jahrhunderts den Grund
für die müde Stimmung des Verfassers zu erkennen, dem Weltflucht und
religiöse Versenkung in das Ewige als einziges Ziel menschlichen Strebens
und irdischen Seins erscheinen.
Von dem gleichen Geiste sind auch die 140 Verse erfüllt, diesen
Schluss des Bandes bilden und als dichterisches Erzeugnis aus der
Frühzeit französicher Literatur eine hohe Bedeutung beanspruchen
können. Am Ende dieser Verse hat der Schreiber des Buches, das er nach
der Sitte alter Mönchshandschriften mit der Bitte um ein Gebet für sein
Seelenheil schliesst, seinen Namen, „le nom de lacteur“, in Rätselform ver-
borgen. Um einen Einblick in die Versgewandtheit des unbekannten Ver-
fassers der Handschrift zu gewähren, seien die letzten Verse dieses heute
unlösbar gewordenen Rätsels hier wiedergegeben:
comme on trent la grappe en la vigne
trouverez ce que je vous dis
se prendez de chacune ligne
la lettre premiere toudis
mais pas ne serez bien apris
.se vous ne les joindez ensemble
chose esparse est de petit pris
qui ne la recneille et assamble
quattre unis lignes dix et sept
dont quattre bastons font memors
nous ensengnent comment on scet
ce que dit est et mieulx encore.“
Hellmut Meyer & Ernst, Berlin W 35, Lützowstr.29
Druck von G. Otto, Heppenheim a. d. B.