Adelsforschung - Wurzeln und Kontexte
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An dieser Sicht und nicht zuletzt konkret an ihrer Übernahme durch Gierke
entzündete sich die Kritik, die zu einer in einigen grundlegenden Punkten verän-
derten Sicht des mittelalterlichen Staates führte. Im Hintergrund stand der Einfluß
der Reichsgründung 1871 auf die Geschichtsschreibung und der Bedeutungsge-
winn der Rechtswissenschaft, die nun auch nachhaltig die Verfassungsgeschichts-
schreibung beeinflußte^. Die Verwendung der Methodologie der modernen posi-
tivistischen Rechtswissenschaft, die den 1871 entstandenen Staat als Modell be-
trachtete, führte zu einer partiell anderen Verfahrensweise bei der Formulierung
von Aussagen über den Staat der Frühzeit und des Mittelalters. Rekonstruiert
werden sollte - deduktiv - das einstige Rechtssystems, das induktive Sammeln
und Kritisieren von Einzelnachrichten trat in den Hintergrund.
Die Grundannahme lautete dabei, daß der mittelalterliche Staat mit dem be-
grifflichen Instrumentarium der Rechtsgeschichte als eine Institution zu betrachten
sei, die sich vom neuzeitlichen Staat nicht wesentlich unterschieden habe, oder
aber als Vorstufe, als unfertiger Staat. Der Nachweis von Staatlichkeit war bewußt
intendiert, dies u.a. auch in Abgrenzung von der französischen Rechtswissen-
schaft, deren Bild von den „primitiven" und „staatsfeindlichen" Verhältnissen bei
den Germanen widersprochen werden sollte^. Die einheitliche Staatsgewalt sah
man im Königtum verkörpert; auch von einem Staatsgebiet und einem Unterta-
nenverband wollte man sprechen. Dies führte zu einer gedanklichen Trennung
von Staat und Gesellschaft und damit zur Unterscheidung von öffentlicher und
privater Gewalt^.
Damit setzte man sich polemisch ab gegen Maurer und Gierke, die öffentliche
Gewalt als patrimoniale Gewalt beschrieben und die Wurzeln der Monarchie im
Bereich des Privatrechts und der patrimonialen Herrschaft gesehen hatten, aber
auch von Waitz, der noch eine unscharfe Grenze angenommen hatte. So meinte
Rudolph Sohm in seiner viel beachteten Kritik an Maurer und Gierke, daß diese
das fränkische Reich in ein „großes Fandgut" und die fränkische Reichsregierung
in eine „Bauernwirthschaft" verwandelt hätten^. Sohm führte die Ansichten seines
Fehrers Paul Roth fort, der bereits 1850 in seiner Geschichte des Benefizialwesens
die seinerzeit herrschende Fehre erheblich modifiziert und die in den Quellen zu
findenden Elemente von „Staatlichkeit" hervorgehoben hatteV Nach Roth gab es
seit taciteischer Zeit einen allgemeinen Untertanenverband. Grundlage der sozia-
len Differenzierung war die rechtliche Stellung; demnach habe es Freie und Un-
freie gegeben. In dieser demokratischen Verfassung habe der Adel keine politi-
schen Vorzüge genossen, wie Roth gegen Eichhorn und Savigny einwandte. Ju-
63 Vgl. OEXCE, Gierkes Rechtsgeschichte.
64 Vgl. nur SOHM, Reichs- und Gerichtsverfassung, S. VIII.
65 Vgl. SOHM, Reichs- und Gerichtsverfassung, S. VIHf.
66 SOHM, Reichs- und Gerichtsverfassung, S. IX.
67 Vgl. ROTH, Benefizialwesen.
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An dieser Sicht und nicht zuletzt konkret an ihrer Übernahme durch Gierke
entzündete sich die Kritik, die zu einer in einigen grundlegenden Punkten verän-
derten Sicht des mittelalterlichen Staates führte. Im Hintergrund stand der Einfluß
der Reichsgründung 1871 auf die Geschichtsschreibung und der Bedeutungsge-
winn der Rechtswissenschaft, die nun auch nachhaltig die Verfassungsgeschichts-
schreibung beeinflußte^. Die Verwendung der Methodologie der modernen posi-
tivistischen Rechtswissenschaft, die den 1871 entstandenen Staat als Modell be-
trachtete, führte zu einer partiell anderen Verfahrensweise bei der Formulierung
von Aussagen über den Staat der Frühzeit und des Mittelalters. Rekonstruiert
werden sollte - deduktiv - das einstige Rechtssystems, das induktive Sammeln
und Kritisieren von Einzelnachrichten trat in den Hintergrund.
Die Grundannahme lautete dabei, daß der mittelalterliche Staat mit dem be-
grifflichen Instrumentarium der Rechtsgeschichte als eine Institution zu betrachten
sei, die sich vom neuzeitlichen Staat nicht wesentlich unterschieden habe, oder
aber als Vorstufe, als unfertiger Staat. Der Nachweis von Staatlichkeit war bewußt
intendiert, dies u.a. auch in Abgrenzung von der französischen Rechtswissen-
schaft, deren Bild von den „primitiven" und „staatsfeindlichen" Verhältnissen bei
den Germanen widersprochen werden sollte^. Die einheitliche Staatsgewalt sah
man im Königtum verkörpert; auch von einem Staatsgebiet und einem Unterta-
nenverband wollte man sprechen. Dies führte zu einer gedanklichen Trennung
von Staat und Gesellschaft und damit zur Unterscheidung von öffentlicher und
privater Gewalt^.
Damit setzte man sich polemisch ab gegen Maurer und Gierke, die öffentliche
Gewalt als patrimoniale Gewalt beschrieben und die Wurzeln der Monarchie im
Bereich des Privatrechts und der patrimonialen Herrschaft gesehen hatten, aber
auch von Waitz, der noch eine unscharfe Grenze angenommen hatte. So meinte
Rudolph Sohm in seiner viel beachteten Kritik an Maurer und Gierke, daß diese
das fränkische Reich in ein „großes Fandgut" und die fränkische Reichsregierung
in eine „Bauernwirthschaft" verwandelt hätten^. Sohm führte die Ansichten seines
Fehrers Paul Roth fort, der bereits 1850 in seiner Geschichte des Benefizialwesens
die seinerzeit herrschende Fehre erheblich modifiziert und die in den Quellen zu
findenden Elemente von „Staatlichkeit" hervorgehoben hatteV Nach Roth gab es
seit taciteischer Zeit einen allgemeinen Untertanenverband. Grundlage der sozia-
len Differenzierung war die rechtliche Stellung; demnach habe es Freie und Un-
freie gegeben. In dieser demokratischen Verfassung habe der Adel keine politi-
schen Vorzüge genossen, wie Roth gegen Eichhorn und Savigny einwandte. Ju-
63 Vgl. OEXCE, Gierkes Rechtsgeschichte.
64 Vgl. nur SOHM, Reichs- und Gerichtsverfassung, S. VIII.
65 Vgl. SOHM, Reichs- und Gerichtsverfassung, S. VIHf.
66 SOHM, Reichs- und Gerichtsverfassung, S. IX.
67 Vgl. ROTH, Benefizialwesen.