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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.6519#0055
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Berliner nun geht noch einen Schritt weiter undschreibt:
»Dürer trug kein Bedenken, die Pilatus-Szene an einer
falschen Stelle einzuordnen, für die ihm offenbar eine wirk-
lich zugehörige nicht zur Verfügung stand« und begründet
dies folgendermaßen: »Die Widmung des Chelidonius an Pirck-
heimer schließt es aus, daß Dürer etwa zu den vorhandenen
Gedichten die Illustrationen geschaffen hätte. Wichtig ist,
daß Dürers Arbeit im wesentlichen beendet gewesen sein muß,
als Chelidonius die Muse rief. . .«. Also war zuerst Dürer
mit seinen Holzschnitten fertig und nun kam Chelidonius mit
seinen Oden dazu, die er in zwei Monaten fertigen sollte.
Auch er arbeitete ganz unbeeinflußt, denn zum Schlüsse ergab
sich das Resultat: Chelidonius hatte auch eine Ode auf die
Annas-Szene gedichtet, zu der kein Dürer-Schnitt vorhanden
war. Um nun aus dieser Verlegenheit herauszukommen, »trug
Dürer kein Bedenken, die Pilatus-Szene an einer falschen
Stelle einzuordnen, für die ihm offenbar eine wirklich zu-
gehörige nicht zur Verfügung stand«. Demnach wäre das, was
Stuhlfauth noch als Annas-Szene betrachtet, tatsächlich die
Illustration zu Matth. 28, 19: Christus vor Pilatus bei der
Botschaft der Claudia Procula1 — aus Verlegenheit an fal-
scher Stelle eingeordnet.

»Also läßt sich erschließen«, beendet Berliner seinen
Aufsatz, »daß bei der Schlußredaktion Chelidonius das
entscheidende Wort zufiel, indem Dürer die Ausgabe für die
Gedichte möglichst passend herrichtete und eine klaffende
Lücke schloß, so gut es die Umstände noch erlauben wollten«.

Gegen diese Anschauung sprechen meines Erachtens
verschiedene Umstände. Zunächst dieser, daß es doch unwahrscheinlich erscheint, daß Chelidonius seine Oden gefertigt
habe, ohne die bereits vollendeten Dürer-Schnitte gekannt zu haben. Wenn schon die Dürersche Passion keine Annas-
Szene aufweisen soll, warum bringt Chelidonius dennoch eine Ode auf diese Begebenheit, nachdem er doch in zwei
Monaten Gelegenheit gehabt hatte, sich über die bereits vorhandene Passionsfolge zu informieren? Oder wie erklärt
sich andererseits der Umstand, daß Dürer die Pilatus-Procula-Szene illustriert, Chelidonius diese aber übersehen oder
übergangen habe ?

Und wenn weiterhin Berliner Recht behält mit seiner Behauptung »Dürer griff nicht zur Bibel und suchte sich
das Passende selbst zusammen; er blieb innerhalb des Traditionsgewohnten und benutzte ein Passionale, wahrschein-
licher aber ein Leben Christi oder sonst ein Erbauungsbuch«, so spricht doch das nicht dagegen, daß Dürer tatsächlich
auch die Szene Christus vor Annas illustrieren wollte. Denn der Karthäuser Ludolph von Sachsen (f 1377) beschreibt
in Kapitel 59/60 seiner weitverbreiteten und vielgelesenen vita Christi die Annas-Szene ausführlich. Von diesem sehr
umfangreichen Werke, »dem einflußreichsten Produkt der deutschen Mystik«,2 »einem der meist gelesenen Bücher der
Welt«,3 erschienen die meisten Auflagen gegen Ende des XV. und im Laufe des XVI. Jahrhunderts. 1470 lag bereits ein
deutscher, anonym bearbeiteter Auszug vor, »Gaistliche Usslegung des Lebes Jhesu Cristi, 178 Blatt in folio mit Holz-
schnitten«, wahrscheinlich in Augsburg gedruckt.4 Wäre es denn so unmöglich, daß Dürer gerade dieses Volksbuch zu
Rate zog ?

Und nun zur formalen Seite. Wenn das stimmen soll, Dürer habe einfach eine seiner vier Pilatus-Szenen heraus-
genommen und als Lückenbüßer dem fertigen Annas-Gedicht zugeteilt, wie erklärt sich dann der auffallende Unterschied
zwischen diesem »Pilatus« und dem einheitlichen Pilatus-Typ auf der Vorführung, Geißelung, Dornenkrönung, Schau-
stellung und Handwaschung? Da ist Pilatus überall eine wohlproportionierte Figur in reicher Gewandung, gegürtet, mit
einem Schulterkragen geschmückt und eine Mitra tragend, deren infulae über Schultern und Brust herabfallen. Dazu trägt
er einen kurzen und breiten Vollbart, der ihm mehr den Ausdruck eines Sultans denn eines Römers verleiht. Der angeb-
liche Pilatus auf dem Annas-Bilde aber ist bedeutend älter, ein Greis mit lang herabwallendem Barte, mit einer Kopf-
bedeckung in Form einer Phrygiermütze und einem skapulierartigen Übergewand. Warum dieser Unterschied? Von Annas

A. Dürer, Christus vor Pilatus. B. 31.

Passion«

Holzschnitt aus der »Kleinen

1 Der Tradition nach der Name der Frau des Pilatus, cf. Joh. Belser, D. Geschichte d. Leid. u. Sterb., d. Auferst. u. Himmelf. d. Herrn. Frei-
burg 1913, S. 365. — 2 Hch. Boehmer, Loyola und die deutsche Mystik. Berichte ü. d. Verhandig. d. sächs. Akad. d. Wiss., Phil.-Hist. Kl. 73. Bd.
Leipzig 1921, S. 5 ff. — 3 W. Moll, Johannes Brugmann, II. Amsterdam 1854, S. 34. — ' Nicol. Paulus, Der Straßburger Karth. Lud. v. Sachsen,
Archiv f. elsass. Kirchengeschichte. 2. Jahrg. 1927, S. 218.

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