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Miethke, Jürgen [Hrsg.]
Geschichte in Heidelberg: 100 Jahre Historisches Seminar, 50 Jahre Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde — Berlin, Heidelberg [u.a.], 1992

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https://doi.org/10.11588/diglit.2741#0139
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Die neuzeitliche Geschichte im 20. Jahrhundert 129

Politisierung der Nation auf der Grundlage historischer Bildung"6 sein. Oncken
versuchte zweierlei zu verbinden: einerseits das Beharren auf dem rein histori-
schen, an Objektivität orientiertem Interesse, wie es das Erkenntnisstreben Rankes
bestimmt hatte, und andererseits die „befruchtende Berührung mit den Problemen
der Gegenwart".7 Dabei räumte er durchaus ein, daß Werturteile nicht zu vermei-
den seien, wollte sie aber mehrfach geläutert wissen: Das für den jeweils unter-
suchten historischen Sachverhalt zeitgenössische ethische Normengefüge mußte
ebenso in das Urteil einbezogen werden, wie die Vor-Urteile des Historikers seine
Quellenkritik und -interpretaiion nicht beeinflussen durften.

Unter den erkenntnisleitenden Prämissen der wissenschaftlichen Arbeit
Onckens nahm die Machtstaatsidee eindeutig die erste Stelle ein. Geschichte wurde
von Oncken als dauernder Kampf von Staaten um die Macht verstanden. Daraus
leitete er den Primat der Außenpolitik und die Voraussetzung des starken und vor
allem innerlich geschlossenen Staates ab. Das Postulat innerer Einheit hat Oncken
vor 1914 immer wieder dazu veranlaßt, für das Deutsche Reich die Integration der
Arbeiterschaft in den Staat zu fordern. Alle sollten am Ganzen partizipieren; es
ging nicht nur darum, „diese Klassen (der Arbeiter) ... von den sozialen Fesseln
(zu) befreien und ihnen einen menschenwürdigen Anteil an den kulturellen Gütern
der Nation (zu) verschaffen", sondern auch, sie „zu einer innerlichen Hingabe an
das Gemeinwesen (zu) erziehen und sie, die bisher nur Objekte der Gesetzgebung
gewesen waren, zu subjektiven Mitträgern der Staatspersönlichkeit (zu) erheben".8
Nach dem Willen Onckens sollten seine Studien zur Arbeiterbewegung dieser er-
forderlichen Integration den Weg bahnen helfen. Dabei wandte er sich nicht nur
Lassalle und dem nationalen Sozialismus zu, sondern würdigte auch die Bedeutung
von Marx und Engels, deren Briefwechsel er 1914 vorurteilslos und einfühlsam re-
zensierte: „In die Reihe der wahrhaften Lebensgemeinschaften unseres Volkes ge-
hören Karl Marx und Friedrich Engels" - „zwei Lebensläufe, die ganz in der Arbeit
an den allgemeinsten Strebungen der Menschheit aufgehen."9

Ebenso erstaunlich wie die Beschäftigung mit Führern und Institutionen der
Arbeiterbewegung war für einen staatsloyalen Historiker des Kaiserreichs die
Nüchternheit, mit der Oncken Wilhelm II. beurteilte.10 Er feierte ihn 1913 zwar als
„die verbindende Einheit aller wirksamen Kräfte, mitten in politischer Zerrissen-
heit", bemühte sich aber um objektive Analyse des Charakters des Kaisers:
„Sanguiniker der Stimmung und des Ausdrucks, höchst empfänglich und ein-
drucksfähig, unstet und beweglich."11

6H. Oncken, Historisch-politische Aufsätze und Reden, Bd. 1 (München, Berlin 1914),

S.VI.
7 Ebd., S.V.

* Ebd., S. 32 (Die Ideen von 1813 und die deutsche Gegenwart; 1913).
9 Historisch-politische Aufsätze und Reden, Bd. 2, S. 325-329 (Marx und Engels; 1914).
10 Ebd., Bd. 1, S. 3 ff. (Der Kaiser und die Nation. Rede bei dem Festakt der Universität

Heidelberg zur Erinnerung an die Befreiungskriege und zur Feier des 25jährigen Regie-

rungs-Jubiläums Kaiser Wilhelms It.; 1913).

Ebd., S. 11; Oncken scheute sich auch nicht, auf die „Hemmungen körperlicher Art" bei

Wilhelm II. hinzuweisen; vgl. S. 9.
 
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