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Mincoff-Marriage, Elizabeth
Poetische Beziehungen des Menschen zur Pflanzen- und Tierwelt im heutigen Volkslied auf hochdeutschem Boden — Bonn: P. Hanstein's Verlagshandlung, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.70221#0042
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Marriagö.

der Glaube an diese Metamorphose in allen Stufen der Ent-
wicklung zu tage. Zur selben Zeit, im selben Dorf, hören
wir Lieder singen, welche die Verwandlung als ganz direkten
äußerlichen Uebergang vom Körper zur Blume auffassen, und
solche, welche diese traditionellen Blumen nur als zufällige
Gewächse ansehen. Sehr deutlich tritt der Glaube an eine
körperliche Verwandlung im folgenden Liede auf, wo der
Hinterbliebene klagt:
Meine Trauer, die soll kein Ende haben,
Bis all ihre Beinlein grün ausschlagen.
(Meier Schwaben 287.)
Die Blume vertritt den Toten:
Auf mei’m Grab wächst das Gras
Schätzlein, brich Röslein ab!
Brich sie ab, trag sie heim,
Trag’s ins Schlafkämmerlein!
Brauchst nicht zu schlafen allein:
Schläfst ja beim Röselein.
(Mosel 186, vgl. Lh. II 533, Elsass 78, Nassau 134.)
Denn sie ist ja der Tote oder die Tote:
Es stunden drei Liljen auf dem Grab,
Da kam ein stolzer Reuter und schlug sie ab;
„Ach Reuter lass du die Liljen stehen,
Darunter liegt mein Schätzchen, ein Röslein schön.“
(Zs. f. d. Myth. III 59 vom Rhein.)
Wie die Wunden im Leichnam eines Ermordeten bluten
sollen, wenn der Mörder sich naht, in gleicher Weise die Blume,
so vollkommen ist die Verwandlung. Zwei Lilien „schön
weiss und rot mit zweien Herzen“ wachsen aus dem Grabe,
wie der Mörder sie anschaut, „da färbt sich die weiße roth,
fing an, zu bluten.“ (Schlesien 64.) Daraus sehen wir auch
den innigen Zusammenhang der Blume und des Körpers, dass
die Lilie aus dem Mund des Toten herauswächst (Win. Jb. I 89).
Wiewohl dieser Zusammenhang nicht häufig so deutlich zu
sehen ist, so zeigen doch folgende Beispiele scharf die Offen-
barung der Seele als Blume, insofern als der letzte sehnlichste
Wunsch des Toten in goldenen Buchstaben auf ihren Blättern
erscheint. Hannsle wird als vermeintlicher Mördei’ seiner Ge-
liebten, Annie, unschuldig hingerichtet: —
 
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