s ist ein reizvolles Bemühen, vergangene Zeiten aus geschriebenen oder
gedruckten Urkunden vor dem Geiste wieder erstehen zu lassen. Wenn
wir uns aber einer bildlichen Darstellung gegenüber sehen, die uns eine
noch unerkannte Örtlichkeit oder Begebenheit anschaulich vor Augen stellt,
so befinden wir uns in der Rolle des erwartungsvollen Zuschauers, der vor
einer geschlossenen Schaubühne des Zeitpunktes harrt, da sich der Vorhang
heben und sich die ganze Fülle flutenden Lichtes über die bis dahin ver-
hüllte Szene ergießen wird.
In solche Stimmung gespannter Erwartung fühlen wir uns versetzt,
wenn wir tastend und suchend die beiden Schloßhofansichten betrachten, die zu den Schätzen
der berühmten Wiener Kunstsammlung Albertina gehören und keinen geringeren als Albrecht
Dürer zum Urheber haben. Sie zählen zu den besten Innenansichten, die wir überhaupt aus der
älteren deutschen Kunstgeschichte besitzen,1 und sind darum wiederholt in der Kunstwissenschaft
besonderer Beachtung gewürdigt worden. Vor allem aber war man schon seit etwa hundert
Jahren mit Eifer bemüht, den geheimnisvollen Schleier, der diese Blätter umgibt, zu lüften und
die Stätte zu bestimmen, die einst den Künstler in ihren Bann zog und ihn reizte, sie mit Stift
und Pinsel in seine Wander- und Studienmappe aufzunehmen. Ein Rückblick über die Urteile
und Ansichten, die bisher über die Schloßhofzeichnungen geäußert worden sind, sei darum die
nächste Aufgabe, der wir uns zuwenden.
DIE SCHLOSSHOFANSICHTEN IN DER BISHERIGEN
BEURTEILUNG
Der erste, der den Hofansichten eine Benennung gab, scheint der Bamberger Kunstschriftsteller
Joseph Heller2 zu sein. Er erblickt in den Blättern zwei verschiedene Ansichten von Dürers Woh-
nung aus auf den Tiergärtner Torplatz in Nürnberg. Aber ganz abgesehen davon, daß zwischen diesem
Platze und den Darstellungen auch nicht die leiseste Ähnlichkeit besteht, kaufte Dürer sein Wohn-
haus erst im Jahre 1509, während die beiden Zeichnungen, wie wir sehen werden, einer weit
früheren Zeit ihre Entstehung verdanken.
Moriz Thausing8 vermutet einen Stadtplatz im südwestlichen Deutschland, wohin sich der
junge Dürer 1490 bald nach Ostern auf die Wanderschaft begab, von der er erst gegen Ende Mai 1494
nach Nürnberg zurückkehrte4.
Derselben Ansicht ist Charles Ephrussi5.
Berthold Haendcke sieht in den Abbildungen einen Schloßplatz in Tirol, weil nach seiner
festen Überzeugung dorthin die Architektur weise. Dürer aber wanderte durch Tirol über den
Brenner auf seiner ersten Reise nach Italien, die vom Herbst 1494 bis zum Frühsommer 1495
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