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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 5.1906

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Lux, Joseph August: Die Missstände der heutigen Grossstadtanlagen, [1]
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Die Missstände der heutigen Grossstadtanlagen

Wohnstrassen vorgesehen war, so erhielt der Ver-
kehr eine unübersichtliche Zersplitterung, die sich
auch auf das grossstädtische Geschäftsleben bezieht,
dem sich ebenso wenig genügende Geschäftsadern
wie für das öffentliche Leben notwendige Sammel-
punkte bieten. Auch erweisen sich die schnur-
gerade verlaufenden Strassenzüge und die weiten
offenen Plätze sowohl in gesundheitlicher als künst-
lerischer Hinsicht als vollkommen unzulänglich.
Als rechte Zug- und Stauberzeuger vermögen sie
nicht mehr als die alte Stadtanlage, die klimatischen
Differenzen auszugleichen und die Wetterunbilden
zu mildern, und sie behindern endlich infolge ihrer
gleichförmigen Geradlinigkeit jede künstlerische
Entfaltung, die im alten Stadtbild unbeschränkte
Möglichkeit besass. Im alten Stadtbild gehen die
Strassen in leichten Kurven aus und ein, und man
gewann in wechselnden Bildern den Anblick der
individuell belebten Häuserfronten. Im neuen Stadt-
bild gleitet der Blick von keinerlei Augruhepunk-
ten unterstützt und erfrischt, die lang durchgehen-
den und nichtssagenden Strassenzeilen hinab. Es
mag sich zum Teil daraus erklären, dass die meisten
Menschen heutzutage architekturblind und in einem
weiteren Sinne kunstblind geworden sind, denn
wenn sie es nicht wären, würden sie sich nie und
nimmer an solche Verödungen gewöhnen können.
Diese Odigkeit einigermassen zu beleben, ist man
auf den übrigens ebenfalls ganz unkünstlerischen
Ausweg verfallen, die Häuser durch ganz zweck-
lose Blechtürmchen, Filigranwetterfähnchen und
sonstige Nichtigkeiten, die dem Scheinwesen un-
serer Zeit entsprechen, herauszuputzen. Um es
kurz zu sagen, was das Ergebnis der grossstädtischen
Bauweise ist: „Die Städte haben unter ihrem Ein-
„fluss nach innen und aussen aufgehört, wohnlich
„zu sein. Die Bautätigkeit der letzten Jahrzehnte
„hat Zustände geschaffen, die keineswegs den An-
forderungen entsprechen, welche die Neuzeit an
„gesundes Wohnen für alle Bevölkerungsklassen
„und an die Entwicklung des öffentlichen und ge-
schäftlichen Verkehrs stellen muss." V
V Eine Sorte von Leuten ist aufgetreten, die sich
Bodenreformer nennen. Kongresse werden ein-
berufen, und mit der Sentimentalität des unauf-
richtigen Fortschritts Vorschläge zur angeblichen
Besserung des Wohnungselendes gemacht. Eine
Unsumme unnützer Arbeit wird verrichtet. Die
Unfruchtbarkeit solcher Anstrengungen hat immer-
hin eine Frucht gereift, nämlich die Erkenntnis,
dass die Wohnungs- und Städtebaufragen in sozialer
und künstlerischer Beziehung nicht auf Grund der
bestehenden wirtschaftlichen Verfassung gelöst wer-
den können. Mit Recht erkennt man den Boden-

wucher als die Quelle des grossstädtischen Woh-
nungselendes. Die ganze Hoffnungslosigkeit besteht
aber darin, dass die Bodenspekulation eine der
stärksten Säulen der heutigen Wirtschaftsverfassung
ist und daher auch zum Teil Mitträger an dem
kommunalen und staatlichen Haushalt. Unsere
öffentlichen und privaten Machtverhältnisse, die
wirtschaftliche und ethische Struktur unseres Le-
bens, ist wesentlich von Erwerbsinteressen bestimmt,
die auch den Wucher in seinen zahllosen Abarten
heiligen. Dass es Gesetze gibt, die verbieten, mehr
als 6% Zinsen zu nehmen, besagt nichts dagegen.
Unsere gesamten Machtbefugnisse, Ehren und Titel
sind auf dieses Erwerbsinteresse zugeschnitten. Es
leuchtet ein, dass die Mehrzahl derjenigen, die in-
folge ihres Amtes, ihres wirtschaftlichen Einflusses
und ihrer sozialen Stellung in der bürgerlichen
Welt, sich bei den Kongressen zur Reform der
Wohnungsfrage einfinden und das grosse Wort füh-
ren, gar kein Interesse haben können, dass etwas
ernstlich reformiert werde. Was von diesen wirt-
schaftlichen Machthabern zur Abwehr des Elendes
vorgeschlagen wird, sind Bettelsuppen, unzuläng-
liche Wohltätigkeitsakte, die mehr oder weniger
ein Betrug an der sozialen oder menschlichen Ge-
rechtigkeit sind. Sie sind ein Symptom unseres
betrügerischen Fortschrittes, der mit den Ergeb-
nissen der Wissenschaft, der Kunst und des hu-
manen Denkens wie ein unehrlicher Handelsmann
Missbrauch treibt. Unter seiner Herrschaft ist die
grosse und wohltätige Dienerin der Menschheit, die
Maschine, zur Tyrannin geworden, die Sklaven er-
zieht und Surrogatwerke erzeugt. Der unlautere
Wettbewerb mit der soliden und individuell beseel-
ten Handarbeit hat das künstlerische Empfinden
des Volkes arg geschädigt und jene pseudokünst-
lerische Stimmung, die zugleich eine antikünstle-
rische ist, erzeugt, von der unser ganzes formales
Leben, vom Hausrat bis zum Städtebau, ein be-
dauerlicher Beweis ist. V
V Die missbräuchliche Umwertung wissenschaft-
licher und künstlerischer Werte zu unlauteren
Handelszwecken nennt man Popularisierung der
Kunst und Wissenschaft. In wirtschaftlicher Auf-
fassung ist es gleichbedeutend mit Bewucherung.
Das Publikum ist gut gedrillt darauf. Die schlechte
Erziehung des Publikums in allen Dingen des Ge-
schmackes und weiterhin des ästhetischen und
ethischen Lebens hängt mit dieser Bewucherung
zusammen. Die überwiegend grosse Mehrzahl un-
serer Bau- und Rohstoffe, mit denen wir das nackte
Leben umkleiden und jene Formen schaffen, die
in ihren solidesten und tüchtigsten Ausführungen
Kunst bedeuten, erweist sich heutzutage als billige
 
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