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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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Des Menschen Wanderung: eine Allegorie
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0015
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2

MODERNE KUNST.

MODERNE KUNST.

3


I


Heinrich Wilke: Des Menschen Wanderung.

Des TDenschen Wanderung.


Und er riß sich in jähem Gnvachen, als hätte er nächte ohne Zahl
geschlafen, los von der Scholle, die ihn gebar, und suchte den
Weg ins lockende Leben, hinab in die dämmerferne Diederung zu
seinen Füßen.
Der Jüngling wandte das Haupt zu den Tieren, die seiner Hut ver-
traut, strich mit der Rechten über Stirn und Augen, als wollte er
ein mahnendes (erinnern tilgen, straffte den Körper und reckte den Arm
und sdiritt nach stummem Abschied hinab zum Tal, das wie verborgener
Sdrätze Hort gleißte und lodete.
Mit sichrem Tritte schritt er über TDatten und Steingeröll, gradaus
den Blick gerichtet, in die Tiefe immer spähend.
„Ich bin die Kraft, dein Schwert,“ trieb es ihn vorwärts, wenn er
zögernd stockte, „was immer dir entgegentritt, du zwingst es nieder."
Der Jüngling ballt zur Faust die Finger und prüft mit Stoß und
Zug die TDuskeln, prüft die Sehnen und dehnt die Brust und reckt das
Haupt, und stolzer stampft sein Schritt den Blumenteppich nieder.
„Doch nimm auch mich mit, soll's dir nimmer fehlen“, gesellte zu
der ersten, streitend in der Brust, die zweite Stimme sich. „Ich bin die
Klugheit. Rät nicht schon des Heilands Lehre: seid schlangenklug? Sei
listig wie die Schlange, willst du vorwärts kommen, doch — das Ohne-
Falsch der Tauben laß den Dummen, die ewig straucheln werden auf der
Bahn des Lebens. Ich bin die Lebensklugheit, sieh, gepaart aus List
und Bosheit; ein Paar von Brüdern sind wir, hör auf uns!“
Aufstöhnend preßt der Jüngling die längst entballten Fäuste
an die Brust und stutzt, es haftet die entspannte Sohle an

6ine Allegorie.
[Nachdruck verboten.]
dem nackten Felsen. Und rückwärts schauend zu den Bergesgipfeln —
die Herde ist dem bangen Blicke lang entschwunden, und lang ver-
weht, verklungen ihr Geläut — ist’s ihm, als wandelten in weiter Ferne,
gleich Sternen ruhig leuchtend, hinter ihm, in hehrem Weiß, Gestalten
nicht von dieser Welt — die Wahrheit und ihr zugesellt der Glaube,
die Hoffnung und die Liebe. Schon will er wieder heimwärts seine
Schritte wenden, wo stiller Friede wohnt, Zufriedenheit gebeut, die
Hände streckt er wie im Flehen entgegen seinen, ach, so fernen Genien.
Da stadreifs ihn von neuem: „Flimm die Kraft, pack mich, dein Schwert,
ich will dir Stab und Stecken sein, und vorwärts denn!“ „Vergiß auch
midr nicht, die das Leben meistert, die Schlangenlist, die Bosheit, die
noch immer triumphiert; sei klug und zaudre nicht, voran!“
Wie es also drängt in seiner Brust und vorwärts, immer vor-
wärts treibt, errafft der Jüngling sich und eilt in wildem Sprung von
Stein zu Stein. Die stieben polternd in den Abgrund. Und dunkler
wird’s um ihn, die finstren Wälder wachsen dichter, düstrer mit Schritt
zu Sdiritt empor.
Aus tausend Fratzen grinsen rings uralte Bäume, ein fahles Leuchten
irrt durch das Gewirr der Zweige. Vom Flusse steigt’s in dichtem Debel
auf und winkt mit weißem Leilach aus der Tiefe. Das Käuzchen lacht
und höhnt, ein Häher kreischt. Im giftig grünen IDoose kriecht's mit
zarten Lämpchen: Johanniswürmchen feiern taumelnd Hochzeit.
Und wie gebannt hemmt jetzt der Jüngling seine Schritte. Vor
ihm, zum Greifen nah, taucht aus dem Dämmer ein Weib, in schnee’ger
Weiße, rank und schlank, im eignen Phosphorflackern leuchtend, und


dehnt die Glieder, schmiegt die Arme um den Hacken: „Ich bin das
Glück, dein Glück, bin ich, was zu suchen du die Heimat ließest. So
nimm mich denn, ich harrte dein schon längst."
Tief atemholend fährt der Jüngling sich an Herz und Stirn und
reckt die Rechte schlicht der lächelnden Versucherin entgegen. Die
weicht mit leisem Spott im Antlitz irrlichtgleich zurück, nur Schritt um
Schritt, unmerklich fast, mit jedem Schritt aufs neue lockend. Gin helles
Zischen pfeift im Grase, die Schlange bäumt sich züngelnd jäh empor:
„sei schlangenklug,“ so höhnt sie den Grschreckten, „sei schlangen-
klug, du Tor“, und wie ein glitzernd Kettlein, das vom Arme sprang, ist
sie in schwarzem Grdenschlupf entschwunden.
Gs krampft dem Ärmsten sich das Herz im Busen. „So brauch
Gewalt!" treibt vorwärts ihn die Kraft, „auch Weibertüd-ce beugt dem
nackten Gisen sich". „Sei klug, begegne List mit List; ist sie erst dein,
magst leicht in Bosheit du vergelten, was sie dir tat. Greif zu, dort
winkt dein Glück!"
So drängt und treibt und kämpft es in des Jünglings Seele.
„Was zögerst. Liebster, du, so folg' mir doch; sieh, jene Grotte dort,
von blankem Grze funkelnd, sie sei das Brautgemach des Glücks, das
sich der Grdensohn gewann, das sich dem Grdensohne gab.“
ITlit wildem Jauchzen stürzt der Jüngling schon dem Weibe nach, —
da füllt ein blendend Licht die Felsenschlucht, ein stilles, starkes, warmes
Leuchten strömt herein, davor der tolle Spuk verbleicht, zerrinnt.
Wie Sphärensang tönt’s von der Wahrheit reinen Lippen: „Halt ein,
besinne dich, du gingest fehl, dich lockten falsche fDächte. Wo du
Leben glaubst und Glüdc, da gähnt der Abgrund, lechzt Verderben nur
nach deinem roten Blut, dem heißen Blute, das den hellen Blick dir
flort. Sieh hin, und siehst du hinter jenem Irrwisch nicht, den du das
Glück vermeinst, mit schweren Ketten, daß sie dich verstricke, die harte
Schuld? Du bist ihr schon gewisse Beute, gewissere mit jedem

Verlag von Gustav Schauer, Berlin.
Schritte, den du vorwärts setzt. Und siehst den Schmeichler nicht, der
dir die fDaske beut, die Habgier nicht, die dich mit gelbem Gold zu
kirren strebt? Sie fühlen dich im Hetz der Sünde, ein zappelnd Fischlein,
schon gefangen und wollen ihren Teil auch an dir haben.
Kehr um! Dir leuchten, sieh’, drei Sterne. Von Gwigkeit schon
wandeln sie mit dir und wandeln überm Haupte jedes fDenschen und
ziehen unbeirrt die hehre Bahn, ob Wolken auch dem Blicke sie
verschleiern.
Der Glaube heißt der erste: wer sein Schifflein nach dieser Radel
lenkt und einzig richtet, den werden keine Wogenkämme schrecken, und
türmten sie sidi felsenhoch empor. Gr wird, vom Sturm gewiegt, als
wie ein Kindlein, dem Schlummerlieder seine IDutter singt, des Hafens
spiegelreinen Frieden finden.
Die Liebe ist der zweite dieser Sterne. Sein helles Glänzen macht
das Herz dir warm und führt durch Gärten dich, die glüh’n und duften,
führt über grüne IDatten, bunte Triften, und Kinder spielen vor dir her,
zur Seite schmiegt sich die Gefährtin. Und gehst am Stabe müde du
in weißem Haar, wird deine Jugend stark dich stützen.
Doch sieh, wie heiterstill, wie unergründlich tief der dritte strahlt!
Ihn nennt ihr IDensdien Hoffnung; ohne ihn wär’ jeder Weg noch trüb
und nächtlich düster. Und führt die Bahn dich steiler stets bergab,
und leuchtet dir kein andrer Stern am Firmamente — so du sein
tröstend Licht nur schaust, nur fühlst, erfüllt die Brust dir freundliche
Gewißheit, daß aus der Tiefe auch ein Weg bergan zur Höhe wieder
aus der Hiedrung klimmt.“
Und vor der Wahrheit himmelreinem Lichte sind Felsen, Wälder,
all der Dämmerspuk geschwunden, ln tiefem Sinnen schaut der Jüngling
in den Abgrund nieder, der vor ihm wie mit Raubtierrachen
klafft, fährt jäh zurück, ermannt sich und in erstem Selbst-
bezwingen steigt er zu seiner Bergeshöhe auf. A. Hn.


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