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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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4. Heft
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Anwand, Oskar: Eröffnungsvorstellungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0132
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MODERNE KUNST.




2)'

Hans Marr als „Wilhelm Teil“
Phot. Becker & Maaß, Berlin.

|er Tod Otto
Brahms hat an
zwei Berliner Büh-
nen Veränderungen
nach sich gezogen.
Die Direktion des
„Lessing-Theaters“
ging in die Hände
Viktor Barnowskys
über, der bisher das
„Kleine Theater“
leitete. Aber eine
Anzahl von Schau-
spielern des Brahm-
Ensembles hat sich
zu einem eigenen
Verbände, dem
Deutschen Künst-
ler-Theater „Sozie-
tät“, zusammenge-
schlossen und ist
in die frühere Kur-
fürstenoper über-
gesiedelt. Brahms
Erbe wurde also
nach Form und In-
halt geteilt. Und
beide Bühnen, das
Lessing- und das
Künstlertheater,
haben jetzt ihrHaus
mit Neu-Einstudie-
rungen, dort Ibsen,
hier Schiller, eröffnet. Übrigens sei noch gegen den Namen Küristlertheater
bemerkt, daß er recht unglücklich gewählt ist. Denn einmal soll er doch wohl
nicht besagen, daß die andern Berliner Bühnen keine Künstlertheater wären,
dann aber eignet er sich für eine Stätte, die Brahms Erbe, den Realismus, pflegen
will und eher Naturtheater heißen müßte, ganz besonders wenig. Aber Namen
sind ja Schall und Rauch.
Es war an und für sich kein unglücklicher Einfall, daß Viktor Barnowsky
Ibsens „Peer Gynt“ für die Eröffnung wählte. Er deutet damit sowohl
an, in den Spuren seines Vorgängers Brahm fortschreiten zu
wollen, wie er über ihn hinausweist. Denn das Programm
Brahms, der ja den Realismus in Deutschland zum Siege
geführt hatte, dann aber neuere Wege der Kunst nicht
mehr zu schreiten vermochte, war so eng, daß
selbst für Ibsen nur Raum blieb, soweit er Realist
war. Barnowsky wählte sich aber eines der
romantischen Versdramen Ibsens, das übrigens
— eine Huldigung des Norwegers gegenüber
Goethe — stark unter dem Einfluß des
„Faust“ steht und gern der „norwegische
Faust“ genannt wird. Hier wie dort der
Lebensgang eines Suchenden, Irrenden bis
zu seinem Greisenalter und der Entsühnung
durch Frauenliebe. Hier wie dort das
Eingreifen einer Hexen- oder Trollen-Welt.
Ibsen hat in dem Bauernburschen Peer
Gynt die Träumerei, Phantasie, Lüge und
Tatenlosigkeit, die er vielfach bei seinen
Landsleuten fand, geißeln wollen. Aber
wohl auch die Dichterphantastik, so daß
Peer Gynt ein Vorgänger Hjalmar Ekdals
aus der „Wildente“ und Rubeks aus „Wenn
wir Toten erwachen“ ist. Wenn zum Schluß
Solvejg, die Verkörperin treuer wachender
Liebe, den Greis Peer Gynt in Schlummer
singt: „Ich wiege dich und ich wache; — Schlaf
und träume, lieber Junge mein“, so ist sie für den
Dichter offenbar zugleich ein Symbol der Heimat
geworden. Aber Barnowsky hatte sich mit der Wieder-
gabe dieser Dichtung großen Stils — die der Dar
Stellung schon infolge ihrer hastigen wie ein Bergbach kurz
aufspritzenden, dann wieder halb versteckt brausenden Reimverse,

ßröffnungsüorskllungcn.
Von Dr. Oskar Anwand. ... , , , ,
[Nachdruck verboten.]
und mehr noch durch ihre öfters halb verborgen liegende geistige Struktur
große Schwierigkeiten bereitet — an eine Riesenaufgabe gewagt. Wenn ihm die
Bewältigung nicht gelang, so ist wenigstens sein großes, ernstes Ringen anzu-
erkennen. Er gab zu viel Körper, schöne Bühnenbilder, laute Massenszenen usw.,
die den Geist unterdrückten. Die Grundlinien wurden dadurch noch stärker über-
wuchert, anstatt herausgehoben zu werden. Dieser Apparat lastete auch auf
Friedrich Kayßler, so sehr dieser Künstler kraft seiner überlegenen Persönlich-
keit, den Peer Gynt in allen Teilen durchgestaltet hat. Barnowsky sollte sich davor
hüten, Reinhardt überbieten zu wollen und lieber seinen eigenenen Geistesweggehen.
Unsere Abbildung zeigt Peer Gynt in
der genialsten Szene der Dichtung, dort, wo
sein Geflunker etwas Positiv-Wertvolles
herbeiführt, am Totenbette seiner Mutter
Aase. Seine Phantasie und die Liebe zur
Mutter, der er das Sterben in Dürftigkeit
gern verschönen möchte, wiegen sie in den
Traum ihrer Schlittenfahrt zur Himmels-
pforte, wo St. Peter tiefgebückt steht — bis
der Tod sie wirklich in seine Arme ge-
nommen hat. Den tiefen Gehalt dieser
Szene haben sowohl Friedrich Kaißler wie
Ilka Grüning voll ausgeschöpft.
Die Eröffnungsvorstellung des Deutschen
Künstlertheaters Sozietät gab Einblick in
die Tätigkeit eines neuen Regisseurs — der
kein Geringerer als Gerhart Hauptmann war.
Seine Aufführung des Schillerschen Teils
stand unter dem ausgesprochenen Streben,
dieses Volksstück im heutigen Sinne zu
erneuern. Zweifellos müssen auch klassi-
sche Werke diesem Verjüngungsprozeß
unterliegen; wir spielen heute Shakespeare
ganz anders als zu Shakespeares, Goethe
anders als zu Goethes Zeiten. Ja, der Ewig-
keitswert eines Werkes beruht gerade darin,
daß sein tiefer Gehalt auch durch die Wellen
neuen Lebens hindurchschimmert. Wenn
man trotzdem gegen Hauptmanns Darstellung
von Schillers Teil unwillkürlich Einspruch er-
hebt, so liegt der Grund darin, daß dem Wesen dieser Dichtung nicht Rechnung ge-
tragen, sein Stil durch die Neuerungen verletzt worden ist. Die Persön-
lichkeiten Schillers und Hauptmanns sind eben zu verschieden.
Schiller späht nach den typischen Gestalten und nach der
Schönheit der Antike selbst in Wilhelm Teil aus, während
Hauptmann Realist bleibt. Schiller will unbedingt das
Leben zum Ideal erheben und stellt den adlig freien
Aufstand eines unterdrückten Volkes dar, wobei
ihm der Bauernaufstand der Schweizer mehr nur
als Bild dient. Hauptmanns Regie will aber
die Bauern gerade zu Bauern machen. Daher
die stockende Redeweise, ihr Räuspern und
Einhalten, daher das ungeschickte Über-die-
Schürze-Streichen der Frauen,. Dinge, gegen
die sich der Stil Schillers wehrt. Ja, die
Grundidee der Dichtung wird verkehrt.
Man sehe sich den Teil Hans Marrs an,
diese Synthese zwischen Hodlers Teil und
Hauptmanns Fuhrmann Henschel. Wie ein
vom Fatum getriebener, bedrückter Bauer
steht er da, nicht aber als der frei han-
delnde Teil Schillers, diese frische Jäger-
natur. Das Verstümmeln des großen Mo-
nologs vor der Ermordung^ Geßlers giebt
auch der Gestalt Teils ein verändertes Aus-
sehen. Schiller wußte sehr wohl, was er mit
diesem Monologe wollte, nämlich Teils Tat
heben und sie als Frucht der widernatürlichen
Grausamkeit Geßlers betonen. Durch das Fehlen
dieses psychologisch wichtigen Moments sinkt Teil
in der Inszenierung Hauptmanns zum Mörder herab,
woran die Szene mit Parricida nachträglich nichts mehr
ändern kann. Eine solche Darstellung Schillers vom eng-
realistischem Standpunkt aus, gegen die sich sein ganzes
Wesen wehrt, beeinträchtigt sein Werk.

Mann mit Pfau.
Islamitische Schattenspielfigur.

Friedrich Kaj'ßler als Peer Gynt
und Ilka Grüning als Aase.
I’hot. Becker & Maaß. Berlin.
 
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