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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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6. Heft
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Aeckerle, Helene: An fernem Horizonte: Skizze
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0176
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MODERNE KUNST.

67

Gebeugten einige Wochen der Erholung in „veränderter Umgebung" zu verschaffen.
In dieser veränderten Umgebung aber geschah das völlig Unerwartete, daß mit ihm
selbst eine Veränderung vor sich ging. — ---— —-—
Hier in der ungewohnten Tatenlosigkeit sonnig heitrer Herbsttage lernte er ein
weibliches Wesen kennen, das dazu bestimmt schien, ihn aus der Enge kurzsichtigen
Selbstgenügens zu befreien.
Es war, als ob das Zutrauen dieser starken und in sich gefestigten Persönlichkeit
all die durch Erziehung und eigne Bequemlichkeit in ihm niedergehaltenen Geistes-
fähigkeiten plötzlich zum Leben erweckte.
Mit Staunen erkannte er, daß auch in ihm allerhand lebte, von dem er nie eine
Ahnung besessen hatte, dessen Wert ihm erst jetzt unter der teilnahmsvollen Aufmerk-
samkeit der Fremden aufging.
Dieses Erwachen unverbrauchter, ja ungeahnter Innenkräfte aber übte auf sie, die
durch Erfahrung Gereifte und durch das Scheinwesen der großen Welt Ermüdete einen
unaussprechlichen Reiz aus.
Sie fühlte, daß es hier Schätze zu heben gab, und mit der ihrer Natur eignen
Entschlossenheit strebte sie dahin, diese Schätze aus ihrer Gebundenheit zu befreien.
Ungeübt in jeder kritischen Selbstbetrachtung fragte Fidi sich nicht, was es war,
das jene Wandlung in ihm hervorrief, er fragte sich auch nicht, wohin diese Wand-
lung führte. In unbestimmtem Frohgefühl gab er sich dem
Reiz des Augenblicks hin.
Um so schärfer sah das Auge seiner mütterlichen Beschützerin.
Sie erkannte, daß hier alles auf dem Spiel stand, und sie war ent-
schlossen, alles aufzubieten, um sein und ihr Leben vor dem Schiff-
bruch zu bewahren.
Was sollte ihm — und was sollte ihr — diese Fremde, deren
Tun und Sein so völlig verschieden war von all dem, das sie in ihrer
Umgebung zu sehen gewohnt war!
Zuerst hatte sie gehofft, daß die Anziehungskraft der Fremden,
die weder durch die Reize der Jugend, noch durch die Reize sinn-
fälliger Schönheit unterstützt wurde, sich in der Spärlichkeit ihrer
Mittel von selbst erschöpfen würde.
Dann aber in der angstvollen und eifersüchtigen Beobachtung
der Befreundeten erwuchs ihr langsam die Erkenntnis, daß das, was
die beiden miteinander verband, von stärkerer Macht war, als jeder
äußerliche Anreiz; sie begriff, daß das, was die Fremde in ihrem
Neffen weckte, ihn in eine andere Welt hinüberleitete — in eine
Welt, in die sie ihm nicht zu folgen vermochte.
Das aber sollte nicht sein! Er sollte das bleiben, wozu ihn ihre
sorgende Liebe: der „geheiligte Wille“ der Toten gemacht hatte.
Bitterer Groll erfüllte sie gegen die Fremde, die mit so ruhiger
Selbstverständlichkeit von dem Besitz ergriff, das sie sich — durch
lebenslange Opfer erkauft zu haben meinte.
Umsonst bemühte sie sich, Mißtrauen gegen die „Dame der
großen Welt" in ihm wachzurufen.
Umsonst suchte sie ihn durch Klagen über ihre Verlassenheit,
durch Hinweise auf ihre erschütterte Gesundheit von jenen unheil-
vollen Zwiegesprächen abzuhalten.
Fidi, der bisher all solchen Klagen ein geneigtes Ohr geschenkt
hatte, blieb unbewegt.
Ja, als sie nicht nachließ, ihn zu einer Abkürzung des Aufent-
halts zu drängen, erklärte er mit noch nicht dagewesener Heftigkeit,
daß er nicht gewillt wäre, sich seine Erholung auch.nur um einen
Tag verkürzen zu lassen.
Eine solche Entscheidung aber bedeutete für seine rücksichtsvolle
Natur so viel wie eine offene Erklärung.
Von diesem Augenblick an gab die schwer Getroffene jeden Versuch eines Wider-
standes auf. Sie schalt nicht mehr auf die Fremde, sie klagte nicht mehr über ihre Ver-
einsamung, sie suchte nicht mehr ihn zurückzuhalten — aber sie war völlig gebrochen,
ein Opfer seiner brutalen Selbstsucht.
Fidi hielt mit dem ganzen Aufgebot seines unerprobten Willens stand. Er redete
sich ein, daß er unbeirrt durch den törichten Eigensinn der alten Frau — reuelos
genoß, was zu genießen ihm als das gute Recht seiner Jugend erschien.
Aber seine Heiterkeit hatte jetzt mitunter etwas Gezwungenes, sein Auge blickte
unruhig, und aus seinem Wesen sprach eine gewisse Unsicherheit.
„Sie" erriet alles, was in ihm vorging. Zu helfen vermochte sie ihm in diesem
Kampfe nicht, doch ihr Mitgefühl verlieh ihrem Wesen eine Wärme, die es ihm zur
Gewißheit machte, daß ihn nichts mehr von ihr trennte, als sein Entschluß.
Zwischen Qual und Glückseligkeit schwankend, erwartete er nun unausgesetzt die
Krafterhebung dieses Entschlusses von sich.
Jeder neu anbrechende Morgen bedeutete eine Frage für ihn: würde er diese
feine, weiße Hand, in der alle Freuden des Daseins für ihn beschlossen lagen — würde
er sie ergreifen und festhalten — oder würde er auch heute, wie alle vorhergehenden
Tage in bänglichem Zaudern an ihr vorübergehen, um unbeschwert durch Selbstvor-
würfe zu der alten Frau zurückzukehren, deren angstvoll gespannte Augen ihn fort-
gesetzt nach der letzten Entscheidung zu fragen schienen.
Er wollte das erste und tat doch das andere-
So gingen die Tage hin-Es blieb nur noch ein Abend — ein
kurzer Morgen — — — — —--

Er stand in seinem Zimmer und packte.
Vor ihm lagen die Karten, die den Namen seiner Vaterstadt trugen —-Es
war zu Ende!.
Morgen schon lag alles hinter ihm!.
Aus dem nebenanliegenden Raum klangen die Schritte der alten Dame zu ihm
hinüber. Sie hatte seine Hilfe eigensinnig abgelehnt und mühte sich nun, die un-
gewohnte Arbeit allein zu bewältigen.
Dieses schwerfällige Hin und Her der Tritte, das sich durch Stunden schleppte,
reizte seine gespannten Nerven. Wider Willen begann er auf das Geräusch der
Schritte zu horchen.
Es war unverkennbar: sie war am Ende ihrer Kräfte angelangt.
Er seufzte schwer.Wenn sie nicht so hilfsbedürftig — so schmerzhaft
hilfsbedürftig gewesen wäre!--
Er dachte an all die unzähligen Ansprüche, die sie an seine Geduld stellte, an
all die Sorgen und Kümmernisse, mit denen sie seine Jugend beschwert hatte — und
er fühlte — zum erstenmal in seinem Leben —, daß er Lasten schleppte.
Konnte es Pflicht sein, diesen Lasten sein ganzes Dasein zu opfern?!
Sein Blick fiel wieder auf die Karten, auf denen der Name seines Heimatorts
stand, und es war ihm plötzlich, als blickte ihn aus diesen großen, schwarzen Buch-

Alfred Wesemann (Albrecht-Dürer-Bund, Wien): Eine Familie.
staben die ganze Öde seines bisherigen Lebens an.Und so würde cs morgen
sein.So würde es alle kommenden Tage sein — wenn nicht —-
In seinen Augen glomm es auf.
Noch war ihm die Entscheidung gegeben — noch konnte er-—
Er richtete sich hastig auf und blickte auf die Uhr.
Ob sie auf ihn wartete?!. Ob sie ahnte, was ihn fernhielt?! Zum
erstenmal legte er sich die Frage vor: ob sie ihm bis auf den Grund seiner Seele
schaute — ihn in seiner ganzen jammervollen Schwäche erkannte?! —-
Brennende Röte stieg ihm in das Gesicht.
Und plötzlich — ohne daß er sich einer Entscheidung bewußt geworden wäre —
hielt er den Türgriff in der Fland und trat zu der alten Frau hinein.
„Ich gehe", sagte er mit einem starren Ausdruck in den Augen — nichts mehr.
Er wußte, daß sie damit alles begriff.
Wie von Schrecken gelähmt, verharrte sie einige Sekunden in der gebückten
Stellung, die sie eingenommen hatte, um einige Kleidungsstücke in ihrem Koffer unter-
zubringen .Dann richtete sie sich langsam auf und setzte stumm — mit
bebenden Händen ihre Arbeit fort.
Als er Hut und Mantel schon in der Hand hielt, bat sie ihn zaghaft um einige
geringfügige Dienstleistungen, die sie sonst als selbstverständlich von ihm bean-
sprucht hatte.
„.Denn," fügte sie — wie um ihre Bitte zu rechtfertigen, hinzu — „meine
Kräfte reichen nicht mehr . . . .“
Schweigend erfüllte er ihre Wünsche.
 
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