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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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6. Heft
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Aeckerle, Helene: An fernem Horizonte: Skizze
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0175

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66

MODERNE KUNST.


Künstlerische Schrank Verzierung.
Copyright by G. Brocherel, Aosta.

An fernem Horizonte


Skizze von H. Aeckerle.


(CifffiT
Fidi Altmann war nichts außergewöhnlich — auch nicht das Geringste!
Trotzdem — oder vielleicht gerade darum unterschied er sich in zwei Punkten
wesentlich von der Mehrzahl aller Sterblichen: er war keinem Menschen ein
Dorn im Auge, und er lebte in dem immerhin nicht ganz anspruchslosen Alter von
35 Jahren in einem Zustande wunschloser Zufriedenheit.
Vielleicht lag das Geheimnis dieser glücklichen Gemütsverfassung — wenigstens
teilweise — in dem Umstande begründet, daß er nie zu einer bewußten Unterschei-
dung der beiden Begriffe: Gewohnheit und Neigung gelangt war.
Die Gewohnheiten seines Lebens waren ihm von zwei ältlichen Damen bestimmt
worden, die die sanfte Unentschlossenheit seiner zu früh verwitweten Mutter durch ihre
robusteren Wesenswerte unterstützt hatten.
Mit der Zeit war es den beiden vortrefflichen Damen gelungen, ihre junge Ver-
wandte so gründlich von der Zerbrechlichkeit ihrer Person zu überzeugen, daß ihr
ganzes Dasein nichts als ein ängstliches Zurijckweichen vor den rauhen Anforderungen
des Lebens wurde.
Die arme kleine Frau Altmann war immer etwas beschämt, wenn sie ihr Kind in
der Sonne spazieren führen durfte, nachdem die guten Tanten es wieder einmal durch
eine schwere Krankheit gepflegt hatten; sie errötete jedesmal, wenn man die glänzenden
Augen und die roten Backen des Kindes lobte — denn waren es nicht am Ende die
guten Tanten, denen dieses alles zuznschreiben war? . .
Ja, mitunter überkam die ängstlich Bescheidene eine gewisse Verwunderung, daß
sie es gewesen war, die dem Kinde das Leben geschenkt hatte, und daß ihr dieses
ohne die Mitwirkung der Allvermögenden gelungen war.
Allein sie war zu dankbar und zu liebevoll, um sich lange bei solcher Verwun-
derung aufzuhalten.
Man hatte sie gelehrt, in den Tanten die edelmütigsten und selbstlosesten Ge-
schöpfe der Welt zu sehen,
und sie hatte nie Veranlassung
gefunden, von der Gewohn-
heit dieses Glaubens abzu-
weichen. Im Gegenteil! Jeder
Tag bewies es ihr aufs neue,
daß dieOpferwilligkeit der Ge-
treuen keine Grenzen kannte!
Es war begreiflich, daß
die volle Erkenntnis solcher
Opfer auf ein zartes Gemüt
erdrückend wirken mußte: die
kleine Frau Altmann wurde
immer ängstlicher, immer
schmäler und immer unbe-
stimmter.
Diese ängstliche Emp-
findsamkeit ihrer Natur war
auch auf das Kind überge-
gangen: es weinte über jedes
unfreundliche Gesicht, geriet
über jeden neuen Eindruck
in zitternde Erregung und
bekundete eine unüberwind-
liche Furcht vor allem, was
ihm an Kraft überlegen schien.
Da Fidi nur seine Mut-
ter als ebenbürtig in diesem

[Nachdruck verboten.]
Punkt empfand, so war sie das einzige Wesen, an dem sich die keimende Kraft
seines Willens erprobte.
Hätte die kleine Frau Altmann die Erkenntnis besessen, daß ihre mütterliche
Existenz demnach doch nicht ohne jeden Nutzen für ihr Kind war, sie wäre ein wenig
befriedigter aus diesem Dasein geschieden, in dem sie sich — dank der Güte der
Tanten — stets als ziemlich überflüssiger Gast gefühlt hatte. —■ — —-
Nach ihrem Tode wetteiferten die Trauernden, ihrem Andenken all jene Vor-
rechte der Mutterschaft einzuräumen, die sie ihr im Leben durch ihren unbezähmbaren
Opferdrang aus den schwachen Händen gewunden hatten.
Jetzt waren es nicht ihre persönlichen Wünsche, ihre persönlichen Anschauungen
und Beschlüsse, die dem Heranwachsenden die Entwicklung bestimmten — jetzt war
es der ihnen «so teure" Wille der Verstorbenen, ihr «geheiligtes" Andenken, kraft
dessen sie billigten oder verurteilten, gewährten oder versagten.
Dieser wehmütige Appell an den Willen der Toten aber schloß für das empfind-
same Gemüt des Knaben von vornherein jede Möglichkeit einer Selbstbehauptung aus.
Auf solche Weise gelang es den beiden alten Damen, aus Fidi das zu machen, was
ihren Wünschen entsprach: er wurde weise und bedächtig, ohne ihnen je die Unbe-
quemlichkeit verursacht zu haben, jung und unbesonnen gewesen zu sein; er wurde
nachgiebig und rücksichtsvoll — einmal, weil es in seiner Natur begründet lag, dann
aber auch, weil er nie eine andere Lebensmöglichkeit, als die ängstlicher Rücksicht-
nahme kennen gelernt hatte.
Nachdem er die Schule beendet hatte, trat er in das Geschäft eines Verwandten
ein — und mit der gleichen ruhigen Selbstverständlichkeit, mit der er in der Schule
seine Pflicht getan hatte, erfüllte er sie nun in seinem Beruf.
Sein Leben stieß auf keinerlei Widerstände. Gleichmäßig floß es zwischen den
vier Wänden des Geschäfts und denen seiner Häuslichkeit dahin. Hier wie dort be-
gegnete ihm uneingeschränkte
Anerkennung, hier wie dort
fehlte der fördernde Maßstab
überlegner Geisteswerte.
Die einzige eingreifende
Veränderung in seinem fried-
lichen Dasein war, daß die
eine der beiden alten Damen
aus dem Leben schied, und
daß er sich nunmehr genötigt
sah, sich der Zurückbleiben-
den mit verdoppelter Hin-
gebung zu widmen.
Um dieses zu ermög-
lichen, verzichtete er — ohne
große Selbstüberwindung —
auf alle sogenannten Ver-
gnügungen der Jugend . . .
Er saß Abend für Abend bei
der alten Dame, nahm ihre
Klagen über das Glück ent-
schwundener Tage geduldig
hin, tröstete sie über die
Mängel der Gegenwart, und
machte sich endlich — nicht
ohne erhebliche Selbstüber-
windung — von der gewohn-
ten Tätigkeit frei, um der

Hans Gölzinger (Albrecht-Dürer-Bund, Wien): Verheerende Fluten.
 
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