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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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9. Heft
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Ertel, Jean Paul: Der Werdegang einer Sängerin, [2]
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Der Werdegang einer Sängerin.

Von Dr.

Ratskeller des Städtchens
das ihr die Schulfreundin
denn nunmehr war
es klar, daß Baby
Opernsängerin wer-
den müsse. „Pupp-
chen", das war ja
doch die berühmte
Opernarie, von der
Onkel Hermann im-
mer so viel erzählt
hatte. Jetzt war es
zur Tatsache gewor-
den, das Schicksal
Babys war mit dem
heutigen Tage besie-
gelt. Nur noch ein
paar Klassen in der
höheren Töchter-
schule, und dann
sollte sofort mit der
Oper begonnen wer-
den. So vergingen
einige Jahre schöner
Hoffnungen. Baby
lernte inzwischen
auch Arien aus der
weltberühmten Oper
„Die Kinokönigin"
und setzte alles in
Erstaunen mit seiner
Kunst. Immer macht-
voller entfaltete sich
das Stiinmchen. Lisa,
die ältere Schwester,
begleitete auf dem
Piano, dessen einzige
Bedeutung darin be-
stand, daß es um
einen ganzenTon tie-
fer als nötiggestimmt
war. Der alte Klavier-
lehrer hatte gemeint,
daß das jetzt so Mode
sei. Überhaupt hätte
man in früheren Zei-
ten viel tiefer als
heute gesungen, wo
die Damen an den
großen Bühnen und
die Tenöre immer
das Bestreben hätten,

V'elch ein Freudentag im Hause Müller: »Baby
das siebenjährige Wunderkind, sang mit einem
— — unzweifelhaft glockenreinen Stimmchen das mit
Recht so sehr beliebte „Puppchenlied". Es war die erste
vernünftige Sangesäußerung dieses jungen Menschleins,
und der gesamte Familienrat gab einstimmig sein Urteil
ab, daß sich hier ungewöhnliche Dinge vorbereiteten.
Baby kannte auch noch „Heil dir im Siegerkranz“ und
„In einem kühlen Grunde". Auf Papas Wunsch lernte
die Kleine außerdem „Im tiefen Keller sitz' ich hier",
wobei Papa Müller immer an seinen Abendschoppen im
mit innigem Behagen dachte. Und nun gar „Puppchen“,
vorgesungen hatte. Das schlug dem Faß den Boden aus;

Der Werdegang
einer Sängerin:
„Bitte verzweifelter! Singen
und spielen Sie zugleich!“

Paul Ertel.
[Nachdruck verboten.]
mit ihren Tönen so hoch hinaus als möglich zu wollen, was
überdies für die Lungen sehr schädlich sei. Deshalb mußte
man bei „Baby" ganz besonders aufpassen, daß es nicht
einem jener Gesanglehrer in die Hände falle, dessen
höchstes Vergnügen die höchsten Töne seien. Überhaupt
— so riet er mit Kennermiene — wäre es endlich an der
Zeit, daß Baby-Klara, die schon den fünfzehnten Sommer
gesehen, einmal zur Prüfung nach der Großstadt gebracht
würde. Dort wohne sein Freund, der Musikdirektor Leh-
mann; der wüßte alles. Und so geschah es. Fräulein
Klara mußte ihm die „Puppchenarie" und noch einige
andere gerade jetzt moderne Opernschlager Vorsingen. Das Resultat war wider Er-
warten günstig. „Da scheint mir eine richtige Isolde, ja sogar eine Brünnhilde im
geheimen zu schlum-
mern", sagte er. Auf
besondere Empfeh-
s lung wurde nun der
, rühmlichst bekannte
Gesangsprofessor
Willibald Fischer
konsultiert. Seine
Tätigkeit bestand zu-
nächst darin, daß er
als Vorschuß für
die „Stimmprüfung"
wie er es nannte,
10 Mark verlangte.
Papa Müller war
sprachlos; er habe
sich wohl verhört,
das sollte wohl das
Monatshonorar für
20 Stunden sein?
Worauf der hart-
herzige Stimmbild-
ner ihm einfach die
Tür wies. Aber nach
zwei Wochen kam
Müller wieder; er
hatte sich inzwischen
erkundigt, daß dies
so Brauch sei, und
so zahlte er denn
schweren Herzens
die 10 Mark. Die
Prüfung verlief ein-
fach glänzend; noch
nie hätte er, Professor Fischer, ein ähnliches Material gehört! Da
steckten Tausende und Abertausende darin, so versicherte er, und,
wenn es mit seiner Zeit auch sehr knapp bestellt sei (er unterrichte
jetzt 42 Schüler), so würde er gerade wegen der phänomenalen
Stimme noch eine Ausnahme machen und die junge Elevin viermal
je eine Stunde im Monat unterrichten, was mit monatlich 100 Mark sehr billig bezahlt
sei. Und wieder schlug Papa Müller lang hin, und wollte sich die Sache überlegen.
Hundert Mark, das sind ja 1200 Mark im Jahre, und mindestens vier Jahre sollte Klara
Gesang studieren; dann wäre sie aber ganz fertig, sagte der Gesanglehrer, was Papa
Müller von sich auch behauptete. Deshalb setzte er diesen vermögenmordenden
Bestrebungen ein kräftiges Halt entgegen. Er hatte aber nicht mit den Tränen und
der Zähigkeit der Frauen gerechnet. Mit der Zeit wurde er so mürbe, daß er sich
schweren Herzens entschloß, ein Ackerland zu verkaufen, um die Summe von etwa
5000 Mark für den Gesanglehrer außer den Pensionskosten aufzubringen. Nun studierte
Klärchen bei dem berühmten Meister. Alles ging ganz gut. Da wurden Mund-
stellungen geübt, ganze Tonleitern auf dem Vokal a gesungen, vom tiefen bis zum

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