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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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18. Heft
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Heilborn, Adolf: Frühling in der Mark
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Aeckerle, Helene: Die Vagabundenkreatur
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0532

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230

MODERNE KUNST.

MODERNE KUNST.

231




Oskar Frenzei: Zeichnung.

Kleinen, wie Enten durcheinander
schnatternd, aus der Schule. Der
Lehrer steht auf der Schwelle, und
wenn sie an ihm vorbeikonimen,
reißen sie die Mütze vom Strohkopf,
und die Mädel knicksen. Und er
nickt und dankt und droht scherzend mit dem
Finger. Das Haus dort mit der blühenden Magnolie
ist die Pfarre. Daneben das Wirtshaus breitet die
steinernen Rampen wie Arme, einladend zum Ver-
weilen. Um die Kirche, aus Feldsteinen ist sie
roh gefügt, das Rot des Ziegel-
dachs ist ganz vom Braun und
Grün des Mooses verdeckt, ein
Friedhof mit Gräbern, zerfallen,
verwittert, verrostete Kreuze mit
unlesbaren Goldbuchstaben dar-
auf, aber alles bunt vom Frühling, Tausendschönchen und Hahnenklee,
Stiefmütterchen und Veilchen, und ein Fliederbusch an der Mauer
läßt seine violetten, Trauben tief auf Tod und Schlummer nieder-
sinken. Ein breiter Weg, von Linden flankiert, biegt ab zum
Schlosse. Ein mächtiges Gitter zäunt es ein, Blumenrabatten vor dem
gelben Hause, das in all seiner Schmucklosigkeit doch Selbst-
bewußtsein, Würde verrät, die Würde, die historisches Geschehen
gibt. Aus diesem Schlosse trat einst ein Derfflinger Dragoner und
ritt mit gegen die Schweden bei Fehrbellin und schritt ein Zieten-
husar und focht bei Leuthen, Liegnitz und Torgau und zog ein
Ltitzowscher Jäger und fiel bei Kitzen, und eilte ein Kürassier und
ward bei Mars-la-Tour aus dem Sattel geschossen . . . Ein Bern-
hardiner bellt und hebt den Kopf, ein Stallknecht in buntgestreifter
Jacke führt ein Pferd zum Stall. Im Parke hinter dem Schloß mit
seinen Linden und Kastanien jauchzen die Finken, eine Goldammer
lockt: „Wie, wie hab’ ich dich Hieb." Und nun die feierlichen
Klänge eines Streichquartetts. Die Türen des koketten Garten-
häuschens stehen offen, aus dichtem Grün daneben winkt eine
weiße Bank, und in langgezogener Klage schluchzt Schuberts „Tod
und das Mädchen" in den Frühling hinaus.

Ein See von jungem Rohr umstanden. Auf der silberhellen,
blanken Fläche ein Taucher mit weißem Halse und den braunen,
drolligen Ohrenbüscheln. „Kärrekietkärre-kärre-kärrekiet kärrekiet"
lockt und neckt es aus dem Rohr. Eine Amsel flötet in süßen,
vollen Tönen. Ein Boot zerrt sacht an der engen Kette. Drüben
Hügel und Roggenfelder, ein Städtchen, die alte Mauer tritt fast
bis ans Wasser. Mädel spülen Wäsche am Ufer. Ziegel- und
Schieferdächer drängen sich aneinander und steigen in die Höhe,
inmitten der graue Schieferturm der Kirche. Und hier ein alter
Park, Buchen und Eichen, und schmale, ungepflegte Wege da-
zwischen. Zerfallenes Mauerwerk, Klosterbogen, die Ruine eines
Turms, ein Küchengärtchen mit Salat und Schoten. Unmerklich geht
er in einen alten Friedhof über, höher und höher klimmend, immer
wilder wuchernd. Säulen und Urnen, Rankenwerk klettert tastend
drüber hin, Zitronenfalter gaukeln in der Sonne um bunte Bauern-
blumen. Und nun kommt Ordnung in die Wildnis, das Leben
reicht dem Tode die Hand, ein Garten mit Stiefmütterchen und
Tulpen, Stachelbeer- und Johannisbeersträucher in voller Blüte und
Kirschen und Birnen und Äpfel: ein weißes, und rosenrotes Blüten-
meer. Zu weißem Teppich gehäuft liegen die Blütenblätter am
Boden, die Bienen summen in den Zweigen, zu höchst das pfeifende
Rauschen von Taubenflügeln, Kühe brüllen in den langen Ställen,
man hört die Ketten klirren, das Schnaufen und Stampfen von Pferden.
Kinder haschen sich auf dem Hofe. Am hölzernen Brunnen schreit
der Schwengel in des Gärtners Faust, und das blanke Wasser poltert
in die Kanne. Ein Knecht, hemdsärmelig und mit blauer Schürze,
jagt, die Arme weit voneinander breitend, nun laufend und wieder
hüpfend, nun aufrecht und wieder hockend, einen jungen Hahn.
Der kräht vor Angst, die Hühner gackern und stieben nach allen Seiten auseinander.
Jetzt hat er ihn bei den Flügeln gepackt, der Gockel zappelt und kreischt und hackt
vergebens mit dem Schnabel um sich, und die beiden verschwinden in dem Hause.
Ein Schlächterwagen biegt aus dem Tore, ein Kälbchen blökt darauf, und der Spitz
umkreist das Gefährt in tollen Sprüngen und schießt auf die Kinder los, die schreiend
flüchten. Die Straße senkt sich zum Wäldchen hinab. Haus liegt bei Haus, ein
Zäunchen davor, ein Gärtchen mit Buchsbaumhecken und Rosengebüsch und bunten
Frühlingsblumen. Hier und da klettert Epheu und wilder Wein zum Giebel empor.
Hinter den Fenstern blühende Kakteen, Geranien und Fuchsien. Auf dem grünlichen
Wasser des Dorftümpels schaukeln sich Enten. Nun die Schmiede, vom Amboß sprühen
die Funken, und pink-pank-pank hämmert’s in lustigem Rhythmus. Ein Leiterwagen
hält davor. Der Schmied paßt dem Braunen ein Hufeisen an. Überall Tauben auf
den Dächern und das helle Blitzen ihrer Flügel in der Luft. Ein schwarzweißes Kätz-

chen schleckt aus braunem Napfe seine Milch und blinzelt in der Sonne und putzt
sich die Pfötchen. Das letzte Häuschen jetzt und das kleinste. Auf einem Bänkchen
davor sitzt ein weißbärtiger Alter und pafft aus der kurzen Hängepfeife und sieht den
bläulichen Wölkchen nach, wie sie entschwinden. Ein Förster geht vorüber und nickt
ihm zu und tritt zu ihm heran, und der braune Jagdhund beschnüffelt den Alten.
Nun Felder, die im Frühlingswinde sacht wellen, ein Birkenwald, jetzt Erlen und
Buchen. Ein Specht hämmert drinnen, von fern ruft der Kuckuck wie im Märchen.
Drunten ein See, eine Schneidemühle dran: sriiiüüu schrillt die fleißige Säge herauf,
ringsum der duftige Schnee blühenden Hollunders. Ein Bächlein schleicht zwischen
Erlengebüsch dahin und verliert sich in der bunten Wiese, die jetzt höher drängt. Und
vorauf nun die Mauern eines Städtchens mit trotzigen Wachttürmen, auf einem ein

Oskar Frenzei: Pastorale.

Storchennest. Ein grüner Wall voll Vogeljubilieren und ist doch, ach, so oft vordem
mit rotem Blut getränkt worden. Nun breite Straßen, wie nach der Schnur gezogen,
Linden vor den Häusern, Scheunendächer dahinter. Ein Lädchen, im Fenster in blauer
Hülle zwei Zuckerhüte und gelbe Zitronen, ein Kistchen Zigarren und Stenglein Zimt
und Muskatnüsse. Ein Bäcker, hinter dem Schiebefenster Wecken und Semmeln und
allerlei Kuchen. Durch die offene Hausflur schimmert ein Gärtchen, darin auf langen
Leinen Wäsche schaukelt. Auf dem Marktplatz Wagen an Wagen mit grauen Planen.
Auf Schemeln hocken die Bauerfrauen vor ihren Kiepen und Körben voll Eiern. In
Käfigen junge Hühner und Tauben und Enten. Dort riesige Sträuße von Blumen in
allen Farben. Und über allem der blaue Frühlingshimmel.
Bedarf es wirklich, um solche Schönheit zu empfinden, eines feineren Natur- und
Landschaftssinnes? Ist der Frühling in der Mark darum minder schön, weil seine zärt-
lichen Reize nicht zu gröblichen Augen sprechen mögen? Adolf Heilborn.

Den jungen Schwalben bereitete das ein ungeheures Vergnügen: sie drängelten
sich ungezogen gegeneinander, schrien noch lauter und bückten die Köpfe so
tief herab, daß es schien als baumelten sie nur noch mit den äußersten Schwanz-
enden am Draht.
Die Mutter Schwalbe, die eine würdige Dame war und etwas auf sich und
ihr Geschlecht hielt, fand diese Vertraulichkeit mit den Menschen höchst un-
passend. Sie wurde mit einem Male unbeschreiblich schlank, drehte den Kopf
auf die andere Seite und bewegte die Schwanzenden hochmütig hin und her.
„Man darf doch nicht vergessen,“ sagte sie zu einer anderen älteren Schwalbe,
„daß man einer höheren Sphäre entstammt! Die Sphäre aber ist alles, meine
Liebe. Ja, die Sphäre!“
Damit erhob sie sich, rief ärgerlich nach den vorwitzigen Jungen und flog
über die Köpfe der gaffenden Leute fort. Mit einem Ruck löste die ganze

^ Die Vagabundenkreatur.

B

Märchen von H. Aeckerle. [Nachdruck verboten.]
s war gerade am Sonnabend vor Ostern, als die Schwalben von ihrer großen Perlenschnur sich auf; sie lag einige Sekunden lang wie ein schön geschwungener

Reise zurückkehrten. Sie saßen wie zu einer langen Perlenschnur auf-
gereiht, auf einem Telegraphendraht, der sich über die Häuser der Stadt hinzog,
putzten sich die Federn und schwatzten dabei so laut, daß die Menschen auf der
Straße stehen blieben, die Nasen in die Luft reckten und die Augen aufsperrten.

ITalbbogen auf dem leuchtenden Blau des Himmels, dann glitt sie fast senkrecht
an einer hohen weißen Wand herab, tauchte in der Ferne noch einmal als schnur-
gerade Linie auf und lief endlich nach allen Seiten hin auseinander, so daß der
Himmel auf eine weite Strecke hin wie ein schwarz getüpfeltes Tuch aussah.
Die Schwalbenmutter flog über die Häuser fort zu einer
bewaldeten Höhe, auf der ihre Familie seit undenklichen Zeiten
zu nisten pflegte. Zu ihrem Arger fand sie, daß der Frühling
hier noch nicht genügend aufgeräumt hatte: auf dem Boden lag
hie und da noch ein Stückchen Eis, die Bäume hatten ihre
grünen Schleier noch nicht umgebunden.
Sie setzte sich verdrossen auf einen Ast, der sich ihr zu
Ehren vergeblich bemühte, die braunen Kinderschürzen von
seinen Trieben abzustreifen und blies ihre Federn auf. Es schien,
als hätte sie ein flockiges Tuch umgenommen.
„Ach Gott, wie langweilig das hier draußen ist!“ seufzten
die jungen Schwalben, die viel lieber auf dem Telegraphendraht
über der Stadt geblieben wären und sich mit den Menschen
„gemein“ gemacht hätten.
Sie waren gerade dabei, vor lauter Langerweile einzu-
schlafen, als plötzlich ein seltsames Leuchten den abendlichen
Wald erhellte. Ein wunderbar schillerndes und schimmerndes
blitzendes und blendendes Ding kam durch die Luft geschwirrt.
Es wechselte — wie ein Tropfen Tau in der Sonne — mit
jedem Augenblick die Farbe: bald glänzte es wie pures Gold,
bald schimmerte es wie mattes Silber, bald brannte es rot wie
die Sonne, bald blaute es tief und unergründlich wie der See, der
sich hinter den Bäumen verbarg. Und dieses seltsame
Ding kam geradeswegs auf die blinzelnden Schwalben zugeflogen.
„Was kommt denn da?“ zwitscherten die Schwalben und
setzten sich in Positur. Das seltsame Ding zog die schillernden
Flügel ein und ließ sich auf einem Tannenast nieder.
„Ach,“ seufzte es, „war das eine Reise!“
„Also Sie kommen auch von der Reise?“ fragte die älteste
der Schwalben, die sich etwas auf ihre feinen Umgangsformen
zugute tat. Sie hüpfte auf den gegenüberliegenden Ast, reckte
den Hals und wippte höflich und neugierig zugleich mit den
Schwanzenden.
Die Schwalbenmutter lugte zwischen ihren Federn durch
mißtrauisch auf den Ankömmling nieder.
„Das scheint eine richtige Vagabundenkreatur zu sein“,
grollte sie. (Eine Vagabundenkreatur pflegte die Schwalben-
mutter alles das zu nennen, was nicht an derselben Stelle nistete,
wo seine Urureltern ihre Jungen ausgebrütet hatten.)
Die „Vagabundenkreatur“ blickte trübe vor sich hin und
schien die Frage der Schwalbe überhört zu haben.
„Ach und wie kalt es hier ist!“ klagte sie weiter.
„Sie kommen wohl auch aus einer wärmeren Gegend“, be-
gann die redselige Schwalbe aufs neue.
„Ach ja,“ sagte das fremde Ding mit wehmütigem Lächeln,
„aus einer sehr, sehr warmen Gegend!“
„Aha,“ bemerkte die junge Schwalbe altklug, „also Ägypten!
Ja, das ist das einzig Wahre! Wo haben Sie denn da gewohnt,
wenn ich fra-
gen darf?“
„Ich,“ erwi-
derte die Vaga-
bundenkreatur,
und es klang
beinahe, als ob
sie sich durch diese Frage ein
wenig beleidigt fühlte, „ich
wohne gar nicht in Ägypten!
Ich wohne überhaupt in keinem
bestimmtem Lande.Ich
wohne in der Menschenbrust.
Bald in dieser, bald in jener,
wo man mich gerade hinruft —
aber immer nur in einer Men-
schenbrust.“
„In einer Menschenbrust!“
wiederholten sämtliche Schwal-
ben im Chor.
 
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