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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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Copyright by Rieh. Bong, Berlin. 12. 3. 1914. Alle Rechte, auch das der Übersetzung in andere Sprachen, sind den Urhebern Vorbehalten.



XXVIII. 14. B.

Szenenbild aus Franz Molnars „Liliom". Von links nach rechts: Marie: Helene Ries, Julie: Tilla Durieux, Liliom: Heinz Salfner.
Phot. Zander & Labisch, Berlin.

Auf dem Trainingplatz der Schlittschuhläufer: Feist und Charlotte.
Phot. Conrad Hünich, Berlin-Charlottenburg.
Betrachtungen Simsons über Scham, die allzu charakteri-
stisch für Wedekind sind, als daß sie fortbleiben könnten.
„Durch meine Blindheit sind wir so vertauscht,
Daß ich das Weib bin, und daß du der Mann bist.
Blind weiß ich nicht, wie ich auf and re wirke.
D'rum brauch’ ich Liebe, brauch’ Geborgenheit.
Was Millionen Weiber schweigend leiden,
Das leid’ jetzt ich. Ich schäme mich, Delila,
Wie in der Ehe nur das Weib sich schämt,
Unsicher seines Glücks bei andern Männern.
Wohl schämte Adam sich, doch nur vor Gott,
Vor dem auch er des Glücks nicht sicher war."

Auf dem Trainingplatz.
Eine der bedeutendsten Kunstläuferinnen der Welt
muß heute schon die kleine Charlotte genannt werden,
die als Trägerin der Hauptrolle in dem großen Eisballett
„Die lustige Puppe“ im Berliner Admiralspalast wohl-
verdiente Erfolge erringt. So sehr klein ist die „kleine
Charlotte" heute allerdings gar nicht mehr, wenn ihre
Erscheinung auch immer noch sehr kindlich anmutet.
Dieses schmückende Beiwort haftet ihr noch aus jenen
Zeiten an, da sie im alten Berliner Eispalast in tatsäch-
lich kindlichem Alter alles durch ihre graziöse Kunst
entzückte. Auf den Eiskunstlauf paßt wirklich das alte
Wort „Früh übt sich, was ein Meister werden will“; nur
in jugendlichem Alter, wenn die Gelenke und Sehnen
noch ihre volle Biegsamkeit und Elastizität besitzen,
kann man sich die Grundlagen dieser schönen Kunst
erwerben, die in hervorragendem Maße die Beherrschung
des ganzen Körpers verlangt. Die kleine Charlotte,
deren bürgerlicher Name Charlotte Oehlschlägel ist, ent-
faltet auf der glatten Fläche des Eises eine Beweglich-
keit und Sicherheit, die kaum noch übertroffen
werden kann; ob sie nun eine Spitzenpirouette
tanzt, sich im tollen Wirbel der Sitzpirouette
dreht oder in schwungvollen Schleifen und Bogen
über die spiegelnde Bahn gleitet — nie hat ihr
Lauf etwas Geziertes oder Gezwungenes, er er-
weckt vielmehr immer den Eindruck, als sei all’
ihr Tun nur Kinderspiel. Und doch bedarf der Eis-
laufkünstler von Beruf unter Aufwendung eisernen
Fleißes eines unablässigen Trainings, will er sich
körperlich auf der Höhe halten und in der Ver-
vollkommnung seiner Kunst weitere Fortschritte
machen. Denn auch hier ist der Wettbewerb un-
gemein rege, wie auf allen Gebieten artistischer
Fertigkeit. Und unsere Eislaufprofessionals haben
es wirklich schon recht weit gebracht; ihre Besten
sind den führenden Amateuren zweifellos weit
überlegen, jedenfalls soweit die Schwierigkeit der
Übungen in Betracht kommt. Unsere Momentauf-
nahme zeigt die kleine Charlotte beim Training
mit dem Berufskunstläufer Feist, einem recht tüchtigen
Läufer, der auch aus der Schule des alten Berliner Eis-
palastes hervorgegangen ist. An jedem Tage nimmt
das Üben mehrere Stunden in Anspruch, da nicht nur
bereits beherrschte Künste immer wieder durchgeprobt,
sondern auch neue Tricks einstudiert werden müssen;
denn auch hier vermag sich nur derjenige im Vorder-
treffen zu halten, der immer wieder Neues und Besseres
bringt. __ IU K. E.

Theater-N euheiten.

Von Dr. Oskar Anwand.

Gerade da, wo Frank Wedekind ein geschlossenes
Drama positiven bekennenden Inhalts anstrebt, und von
den Salti mortali absehen muß, mit denen er sonst in
scheinbar genialer Ausgelassenheit über den Boden, der
ihm bedenklich erschien, mit stilverwirrender Fratze
hinwegsetzte — zeigt es sich, wie sehr er seine Innen-
welt zersetzt hat. Kaum ein Rest schlichter, warm-
herziger Natürlichkeit ist geblieben. Wenn man Friedrich
Hebbel ein Gehirnraubtier
genannt hat, könnte man ihn
als Gehirnakrobaten und
Naturvergewaltiger bezeich-
nen. Mit einem Bein auf
dem Sockel der Tragödie,
mit dem andern auf dem
grell bemalten Faß der Gro-
teske fußend, jongliert er
seine • Bälle umwertender
Denkertätigkeit in der Luft,
hin und wieder ein Bänkel-
lied anstimmend. Dabei
rücken für Frank Wedekind
echtes Empfinden, Lebens-
wärme und Wahrscheinlich-
keit mit den trockenen Ge-
bilden des Hohnes, des
Witzes und der Ironie so
nahe aneinander, daß er sie
nicht trennen kann und das
eine für das andere einsetzt.
Das zeigt sich in seinem
scheinbar biblischen Drama
„Simson“ am klarsten. Besser
noch hieße es Delila, die
wiederum nichts anderes als
Wedekinds „Lulu“, d. h. der
weibliche „Erdgeist“ ist, der
den Mann zugrunde richtet.
Es fällt schwer, in diesem
Stück die bare Gemeinheit
dieser Dirne zu ertragen, die
eben keinen Menschen mehr,
sondern eine Anhäufung ver-
worfener Instinkte darstellt.
Man muß sich überhaupt

Kann also Frank Wedekind den Bänkelsänger nicht
ganz verleugnen, so sucht der ungarische Dichter Franz
Molnär in seiner Legende „Liliom“ die verwandte Welt
der Rummelplätze und Karussells auf. Und ähnlich
wie Wedekind in „Frühlingserwachen“ aus der wirk-
lichen Welt plötzlich in die der Verstorbenen über-
springt, führt uns auch Franz Molnär mit einem Salto
mortale in den Himmel, in die Abteilung für Selbstmörder.
Man kennt den Ungarn als einen Mann mit echtem
Theaterblut, der die Bühnenwirkung keinesfalls ver-
schmäht, sondern stark mit den Instinkten des Publikums
rechnet; so geht es auch in Liliom, den wiederum das
Lessingtheater zur Darstellung brachte, bunt her. Die
geschickten Bühnenbilder — so zum Beispiel ein
Stadtwäldchen mit der fensterhellen Stadt im Hinter-
gründe, das Innere einer Photographenbude auf dem
Rummelplatz, eine Bahn-
dammstrecke, an der ein

zelle des Himmels usw. —
erinnern gelegentlich selbst
an den Kino. Darauf be-
wegen sich Zuhälter und
Dienstmädchen, Verbrecher
undSchutzIeute, diesclnvarz-
berockten Gerichtsbeamten
des Himmels, irdische Dienst-
männer und wesensver-
wandte Personen.
Aber zweifellos steht
ein Dichter hinter diesem
Kunterbunt, wenigstens war
Molnär im „Liliom“, dessen
Entstehung um einige Jahre
zurückliegt, mehr Dichter
als im „Leibgardisten“ usw
Seine Hauptfigur, der An-
gestellte eines Karussells,
der auf die Mädchen starke
Anziehungskraft übt und
auch von der Besitzerin des
„Ringlspiels“ geliebt wird,
wächst aus dieser Welt orga-
nisch hervor. Es ist gut
empfunden, daß Liliom von
seiner Herrin fortgeschickt
wird oder ihr selbst den
Dienst vor die Füße wirft,
weil sie eine stärkere Nei-
gung zu einem Dienstmäd-
chen bei ihm vermutet und
dieses schilt. Wie nun die
beiden Ausgestoßenen auf

zwingen, über das Abstoßende hinweg Anteil an den
Vorgängen zu nehmen. Es erscheint nur wie eine Ein-
leitung, daß Delila ihren Simson blenden läßt, weil in
seinen Augen ein anderes Weib gelebt hat — übrigens
bereits ein getötetes Weib, wie sich in diesem Stück
Wollust, Grausamkeit, Tod und Schmerzen ständig
mischen. Diese Delila hätte wohl auch sonst ihre Tat ver-
übt. Nun dreht Wedekind das Verhältnis zwischen Mann
und Frau durch Simsons Blindheit insofern um, als
Delila die Führende wird. Sie benutzt ihre Macht, in-
dem sie sich selbst und Simson bei innigster Umarmung
den Blicken der Philisterfürsten preisgibt! Hier folgen

Wenn der Dichter hier also mit perversen Empfin-
dungen spielt, so darf zum Schluß beim Gastmahl des
Königs Og auch der Sadismus nicht fehlen. Dort legt der
König nämlich Delila mit durchschnittener Kehle vor sich
auf die Tafel. Aber vorher wollten die Philister sie,
weil sie sich und Simson preisgab, zur Prophetin und
Tugendspenderin erklären, denn ihre Kunst verwandele
die „schmutzigen Menschen“ in die „reinsten Tiere“.
Man steht erstaunt, wie Frank Wedekind ein solches
Motiv, das doch nur ins Gebiet der Satire oder Groteske
gehört, in einer Dichtung verwenden kann, in der Simson
den wahren tiefen Schmerz zum Ausdruck bringen soll,
den Wedekind selbst durch die „Philister“ erfahren
haben will.
Denn neben dem Delila-, d. h. Wedekinds altem Erd-
geistmotiv läuft das Simsonmotiv, und aus ihm klingen
sogar christliche Akzente. Ein Leider, ein Dulder, ein
Märtyrer in solcher Welt! Am Schluß des ersten Aktes
hofft man aus Simsons Worten:
„Blind seh ich klar, wie blind ich sehend war“,
daß der Horizont sich weiten und das Drama über die
Dirne hinaus ins Große schreiten werde. Aber
genau so wenig, wie Simson die Selbstverständ-
lichkeit begeht, sich von Delila, die ihn blenden
ließ, loszusagen — genau so wenig kommt Wede-
kinds Drama über den Bannkreis der Sinnlich-
keit hinweg. Daß Simson durch den Verlust der
Augen zum Dichter geworden sei, bleibt trockner
Gedanke, ebenso wie sein Märtyrertum. Wenn
er schließlich die Säulen des Palastes erfaßt und
den König, sich selbst und alles Volk unter den
Trümmern begräbt, so tut er’s im Grunde doch
nur aus Schmerz über Delila, die er trotz aller
Demütigung hündisch liebt.
So fehlt dem Stücke alles Erhebende; das
im Berliner Lessingtheater eine gute Darstellung
fand; diese Welt ist wahrlich nur dazu da, unter-
zugehen. Vielleicht wäre sie auf der Bühne auch
von selbst auseinandergefallen, wenn nicht Fried-
rich Kayßlers ernste und starke Persönlichkeit
den Simson getragen, ja höher hinaufgeführt hätte.
Als Dichtung bleibt es bis auf einige Stellen verloren,
aus denen eigenes Leid Wedekinds — Erbitterung und
Enttäuschung mit Überzeugungswärme spricht.
 
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