Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

DOI Heft:
7. Heft
DOI Artikel:
Goedicke, Elisabeth: Der Kofferträger: Weihnachtsskizze
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0205
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
MODERNE KUNST.

81

Nun mußte er doch lachen und sagte: „Ja, aber nur unter der Be-
dingung, daß Sie mir dann erlauben, mit anzufassen.“
„Gewiß“, sagte ich. „Also das ist abgemacht.“
Wir schüttelten uns die Hände, und nach vierzehn Tagen trugen
wir seinen Koffer zusammen nach dem Schiff. Als er dort glücklich
verstaut war, und wir uns verabschiedeten, streckte ich die Hand aus und
sagte: „Nun bitte, meine Mark.“ Ich bekam auch die und konnte, als ich
nach Hause kam, einer armen Wöchnerin zwei Mark für Milch geben.
Im übrigen vergaß ich die Geschichte bald, denn es gab viel
Not in meiner Gemeinde, die meine Gedanken ganz in Anspruch
nahm. So kam zum Beispiel kurz vor Weihnachten ein Mann zu
mir, der eine kleine Kasse unter sich hatte und gestand mir voller
Verzweiflung, daß er vor einiger Zeit hundert Mark aus der Kasse ge-
nommen hätte, da er sie sehr nötig gebraucht hatte. Er hatte sicher
geglaubt, sie in einigen Tagen ersetzen zu können, nun war aber das
Geld, auf das er gerechnet hatte, ausgeblieben, und er sah keine Mög-
lichkeit, den fehlenden Betrag zu ersetzen. Zwischen Weihnachten und
Neujahr war Kassenrevision; für den Mann, der der Ernährer einer großen
Familie war, stand also alles auf dem Spiel.
Nun kamen natürlich auch noch die Gewissensbisse dazu, denn
während er sich zuerst, als er glaubte, das Geld gleich wieder ersetzen
zu können, gar nicht viel bei der Sache gedacht hatte, fühlte er sich
nun als Dieb, und seine Frau schwebte in der steten Furcht, daß er sich
aus Angst vor der Entdeckung und Schande das Leben nehmen würde.
Ich grübelte Tag und Nacht, wo ich wohl hundert Mark herbekommen
könnte. Selbst hatte ich nichts und Wertgegenstände, die ich hätte ver-
kaufen oder versetzen können, besaß ich auch nicht. Von den paar
wohlhabenden Familien des Ortes bekam ich auch nichts mehr, denn sie
hatten schon reichlich für die Armenbescherungen gegeben und nahmen
es mir fast übel, daß ich überhaupt noch mal bitten kam, denn ich durfte
ihnen ja nicht sagen, wozu ich das Geld so nötig brauchte. Ich schrieb nach
außerhalb an bekannte Wohltäter und Unterstützungsvereine, aber überall
bekam ich abschlägige Antworten. So kurz vor Weihnachten war die Zeit
zu ungünstig, jeder hatte schon so viel gegeben, daß er nun meinte,
genug getan zu haben. Inzwischen tröstete ich die Leute: „Verliert den
Mut nicht, vertraut auf Gott. Wir bekommen die hundert Mark. Irgendwo
auf der Welt müssen doch die hundert Mark aufzutreiben sein.“ Aber ich
muß gestehen, daß ich im Grunde den Mut selbst schon etwas verloren
hatte. So war der Weihnachtsabend herangekommen. Ich hatte Nach-
mittagsgottesdienst abgehalten und wollte dann zu den Leuten gehen,
um sie etwas zu trösten und aufzurichten. Vorher sprach ich aber noch
zu Hause vor. Da war inzwischen ein Brief mit fremder Handschrift an
mich angekommen. Ich öffne ihn — und halte einen Hundertmarkschein
in der Hand. Ich war damals noch jung und nicht so ruhig wie jetzt ■—
ich kann Ihnen sagen, geweint habe ich vor Freude.
Dann las ich den Brief, der bei dem Schein lag.
Er war von dem Herrn, dem ich im Sommer den Koffer getragen
hatte und lautete: „Mein lieber und verehrter Herr Pastor! In dieser
Zeit, wo jeder daran denkt, seinem Nächsten eine Freude zu machen,
werden Sie besonders viele zu bedenken haben, da Sie ja in jedem
Armen Ihren Nächsten sehen. Erlauben Sie mir deshalb, Ihnen diesen
Schein zu schicken. Wenn ich ein reicher Mann wäre, so würde ich
Ihnen viel, viel mehr senden, aber ein paar frohe Herzen können Sie
wohl mit diesem Geld auch schon machen. Ich habe Ihnen so viel zu
danken, denn das kleine Erlebnis, das wir miteinander hatten, hat so
viel Gedanken in mir wachgerufen — “
Ich habe den Brief kaum zu Ende gelesen.
Gelaufen bin ich, daß mir die Leute kopfschüttelnd nachgesehen
haben, um dem Mann das Geld zu bringen, und ich kann wohl
sagen, es hat mir kaum ein Mensch eine so große Weih-
nachtsfreude gemacht, wie dieser Herr, dem ich den
Koffer getragen hatte. So hoch war mein gering-
fügiger Dienst belohnt worden —“.
Harriet Tann-Elliesen stand auf.
Ihr war ein bißchen
kalt geworden, aber
ihre Augen glänzten.


„Was war das für eine schöne WeihnaclKsgeschichte“, sagte sie und
reichte ihm die Idand.
Dann nahm er den Koffer wieder auf, und sie gingen weiter durch
den stillen Abend. Aber der Frau, die mit einem unruhigen, gequälten,
leidvollen Herzen aus der großen Welt gekommen war, war froh und
weihnachtlich zu Mut.
■’.v *
.v.
Auf den Tag ein Jahr war seitdem vergangen, da stand Harriet
Tann-Elliesen in einem großen, prunkvollen Saal im Glanz all ihrer
Juwelen, und Tausende von Menschen lauschten atemlos ihrem wunder-
vollen Gesänge. Von den beiden hohen Tannenbäumen, die hinter ihr
im Licht unzähliger Kerzen flimmerten, ging ein weihnachtlicher Duft aus.
Es war ein Wohitätigkeitskonzert. Eine Grubenkatastrophe im Stein-
kohlenrevier hatte Hunderte von Menschenleben gefordert, und Harriet
Tann-Elliesen, die auf einer Konzertreise durch jene Gegend gekommen
war, hatte das furchtbare Elend mit angesehen. Da war von ihr die An-
regung zu diesem Konzert ausgegangen, in dem außer ihr noch andere
Künstler mitwirkten; aber ihr Gesang war doch die Glanznummer, und
als sie jetzt geendet, brach ein jubelnder, tosender, nicht endenwollender
Beifall los. Sie hatte sich ein paar Mal lächelnd verneigt. Dann stand sie
ruhig da und sah mit einem seltsamen, ernsten Blick auf die glänzende,
elegante Gesellschaft, die sich jetzt um ihr Podium drängte und mit er-
hobenen Händen, mit Rufen und Klatschen stürmisch noch um ein
Liedchen von ihr bat.
Und eine andere Menschenmenge fiel ihr ein, die sie vor wenigen
Tagen gesehen — Frauen, in deren Augen die Verzweiflung gebrannt,
weil ihnen der Gatte und Ernährer genommen, Kinder, die weinend
nach ihrem Vater gerufen, Mütter, die sich schluchzend über die Leiche
des einzigen Sohnes geworfen.
Sie wußte, es war viel Geld heute eingekommen, aber es war noch
lange, lange nicht genug, um den Jammer zu stillen. Ob wohl einer von
den geputzten Menschen dort im Saal an die armen Leute dachte? Ach,
sie hätte es wohl selber nicht getan, wenn sie nicht das Elend mit
eigenen Augen gesehen hätte. Sie hatte sonst wohl auch für Arme, Be-
drängte gesungen und hatte sich so wenig dabei gedacht, wie die Men-
schen, die da unten im Saal zum wohltätigen Zweck tanzten, flirteten
und soupierten. Und da fiel ihr plötzlich der Mann ein, der einen Koffer
trug, um eine Mark für seine Armen zu verdienen, der mit seinen Schütz-
lingen litt und bangte und die Freude mit ihnen teilte, wenn er ihnen
helfen konnte. Das ganze Erlebnis vom vorigen Jahre fiel ihr ein, wie
sie auf der dunklen Chaussee auf ihrem Koffer gesessen hatte und in
frohe, weihnachtliche Stimmung gekommen war, weil sie gesehen hatte,
daß es noch wahre Menschenliebe auf Erden gibt.
Der Beifall wollte nicht enden. In den letzten Reihen standen sie
auf den Stühlen und vorn trampelten sie mit den Füßen und riefen und
baten. Da machte sie eine kleine gebietende Bewegung mit der Hand,
und Totenstille herrschte im ganzen Saal. Der Begleiter, der noch am
Flügel saß, sah sie erwartungsvoll an und griff nach den Noten. Aber
sie wendete sich nicht zu ihm.
Sie sagte zu den vielen, lauschenden Menschen: „Ich will Ihnen
heute kein Lied mehr singen, aber ich will Ihnen erzählen, was ich im
vorigen Jahr am Tage vor Weihnachten erlebte, und zum Dank dafür
sollen Sie mir jeder noch ein Scherflein geben für die armen Unglück-
lichen, von denen ich komme.“
Mit ihrer vollen, klingenden Stimme erzählte sie nun, und die tausend
Menschen hörten so still, so atemlos zu, als wenn sie ihnen ein Lied
gesungen hätte. Als sie geendet, brach kein tosender Beifall los, aber
ein Glanz lag auf allen Gesichtern. Sie stieg von dem Podium hinab,
und während sie umdrängt war, und Gold und Silber und
Scheine in ihren Korb flogen, spielte ihr Begleiter oben:
„Stille Nacht, Heilige Nacht,“ und viele dachten erst
)'/ jetzt d aran, daß morgen Weihnachten war, und
daß die Bäume mit ihrem stillen Kerzenglanz
zum Gedächtnis an barmherzige Liebe
brannten, die zu
-■ den Menschen her-
abgestiegen ist.

XXVIII. W.-No. 21
 
Annotationen