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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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7. Heft
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Loeb, M.: Die Winternacht der Berge
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0210
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MODERNE KUNST.

■ u i: Russischer Winter.

Oie CUintepcuaeht der ßepge.

Von JVL Loeb = Berlin.

liefern Schlafe schlummert die Natur. Graues, farbloses Gewölk jagt
über die winterlich tristen Ebenen; schwarz und kahl recken die Wälder
ihr Geäst zum Himmel. Wohl deckt bisweilen linnenweißer Schnee die
Fluren; aber in unserer Zone ewigen Wechsels rast bald wieder der heulende
Südwest heran, der gierig an der weißen Decke, den hängenden Eiszapfen leckt,
sie mit Rieselregen überstäubt und der winterlichen Pracht nach kurzem, ver-
geblichem Widerstande des bei uns gar nicht so strengen Herrn jählings ein
Ende bereitet.
Wer den Winter will verstehn, muß in Winters Lande gehn. So darf man
wohl das Dichterwort umwandeln; denn in unseren Landen ist der Winter, der
rechte, eisige Winter, immer nur ein kurzer Gast. LTnversehens kommt er
gelegentlich heran aus dem fernen Norden und Osten, wo er daheim ist; aber
auch in unseren Landen hat er seine Residenz. Nur ist sie vor den Schritten
der Allzuneugierigen gesichert durch hohe Mauern von Eis, durch gefahrvolle
Zugbrücken von Firn, durch trügerisch verhüllte Abgründe und zackige, eisglatte
Zinnen. In den Bergen ist des Winters zweite Residenz, darin er Hof hält mit
all’ der glitzernden, blinkenden, kalten Pracht, mit der sich dieser Bergesregent
umgibt. Er ist ein strenger, erbarmungsloser Herrscher, gefürchtet von den
Menschen seit alters her, und wehe dem, der es in seinem Leichtsinn wagt, ohne
genügenden Freibrief sich in den Bereich seiner eisstarrenden Bergvesten zu
begeben. Ein leises Knistern, ein dumpfer Fall: die weiße, trügerische Zug-
brücke hat den Verwegenen, der sie betreten, verschlungen, ihn dem Abgrund
preisgegeben. ,s ...
Himmclragende, unersteigliche Burgen sind die Berge zur Winterszeit, und
eine heilige Scheu hielt Jahrtausende die Menschen von dieser Schreckenswelt
fern. Wohl trieb sie, deren Phantasie von Sehnsucht beschwingt war, ein unbe-

[Mnch'lutck verboten.]
stimmtes Streben nach der freien Höhe; doch ihr Sehnen erlahmte an ihrer
irdischen Unzulänglichkeit:
„Wer hier aufstrebt, muß bellügell sein;
Iclr meine mit der großen Sehnsucht Schwingen,
Die mich dem Führer nachzog' mit Gewalt."
So singt Dante in seiner Göttlichen Komödie, und auch Petrarca gibt der mensch-
lichen Sehnsucht nach der freien Bergeshöhe dichterischen Ausdruck:
„Bald drängt zu einer freiem, offnem Höhe,
Auf die nicht andrer Berge Schatten fallen,
Mich aufwärts ein gewaltiges Verlangen."
Doch was dichterische Gemüter erstrebten, blieb dem Volk mit Grauen
erfüllt. Es wähnte böse Geister und Dämonen auf den Bergen; nach seinem
Glauben umtoste die Gipfel des Blocksberges und des Plörselberges nächtens das
wütende Heer — Hexen und Teufel stürzten jeden, der sich freventlich den
Höhen nahte, hohnlachend ins Verderben. Selbst zur Sommerszeit, wenn sich
Schnee und Eis bis zur Wolkengrenze zurückgezogen hatten, wagte niemand den
Aufstieg; erst Jean Jacques Rousseau, der Apostel der freien Geister, und
Albrecht von Haller, der dichtende Naturphilosoph, weckten den Sinn für die
unvergleichliche Schönheit und Erhabenheit der Bergeswelt.

Heute hat sich in unermüdlichem, zähem Ringen, die Menschheit die Berg-
gipfel erobert. Vor keiner Mühe, keiner Gefahr ist sie zurückgeschreckt; sie hat
die Firnwelt der Jungfrau und des Schreckhorns bestiegen, hat das Malterhorn
bezwungen, dessen kahler, gigantischer Gipfelfelsen, von der Sonne in Gluten
getaucht, einer Flamme gleich zum Himmel emporlodert; sie hat auf. den Mont-
blanc, das Dach Europas, ihren kühnen Fuß gesetzt. Doch im Winter bleibt
 
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