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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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7. Heft
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Loeb, M.: Die Winternacht der Berge
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Berlin, Margarete von: "Min' lütt Junker.": Skizze
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0212
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MODERNE KUNST.

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und Automobile stehen am Bahnhof bereit, um die in Pelze und Decken gehüllten
Touristen in die komfortablen, wohlig durchheizten Hotels zu führen, wo sich
inmitten der in tiefem Winterschlafe liegenden Natur während der Weihnachtstage
und der Woche bis zum Neujahrfeste ein farbiges, bewegtes Leben entwickelt.
* *
In die Berge zum Wintersport zu eilen, sobald die Festwoche naht, ist
eben heute „dernier cri“. Man hat gefunden, daß keine Erholung so spontan
und nachhaltig wirkt, wie ein achttägiger Aufenthalt auf winterlicher Bergeshöhe,
wie die Bewegung in der klaren, kalten, vollkommen reinen Luft des ver-
schneiten Gebirges. Aber die Ansprüche des modernen Kulturmenschen an Kom-
fort sind viel zu sehr gewachsen, als daß er während der Erholungstage in den
Bergen die gewohnten Bequemlichkeiten missen möchte. Kopfschüttelnd schaut
man den „Eigenbrödlern“ nach, die es verschmähen, in tadellosem Dreß an der
Abendtafel zu erscheinen, die lieber in ihrem wollenen Touristensweater bleiben
und sich abends unten einsam in die einfache Schenke zu den Holzfällern und
Fuhrleuten setzen, die jede Begleitung auf ihren Skifahrten verschmähen und
allein mit sich in die winterliche Einsamkeit flüchten. Auch den eigentlichen
Wintersportlern, der immer zahlreicher werdenden Schar der Eislaufkünstler,
der Rodler und Bobsleigh-Fahrer, 'gehen die passionierten Ski-Läufer aus dem
Wege. Sie finden, daß diese geschäftige, laute Sportbetätigung die Reinheit der

Berge entweiht, die erhabene Einsamkeit der winterlichen Wälder stört. Aber wie
überall, so müssen auch hier die Einzelnen, die Wenigen der Masse weichen.
Lustig klingen im großen Speisesaal des Hotels die Geigen; Blumen in
leuchtenden Farben schmücken die Festtafel. Eine erlesene, untadelhaft-gekleidete
Gesellschaft, die Herren im Frack, die Damen in eleganten Abendkleidern,
mit Perlenketten auf dem Decolletd und Brillantagraffen im Haar, hat sich zur
Feier des Weihnachtsfestes versammelt. Aus allen Teilen des Landes sind sie
herbeigeeilt; erst vor wenigen Stunden hat sie der Zug gebracht. Aber der
Zufall, der sie zusammenführt, ist ein neckischer Gesell, und steht mit dem
kleinen, pfeilbewehrten Knaben, halb Gott, halb Kobold, im Bunde, der hier
geschäftig sein loses Spiel treibt.
Dann senkt sich dämmernd der Abend hernieder. Es ist Weihnachtsabend.
Vom nahen Städtchen her, das von dem fashionablen Hotel auf der Höhe stolz
überragt wird, erklingt Glockengeläut; der Himmel färbt sich mit den brennenden
Purpurgluten der Dämmerung. Geschäftige Hände zünden an dem riesigen,
schnee- und flitterbestäubten Tannenbaum die Kerzen an. Seltsam! Unversehens
hat all’ die festlich geschmückten, leichtherzigen, tändelnden Menschen im Saale
Weihnachtstimmung umfangen. Und als die Glocken verklingen, als feierliche
Orgeltöne von der Kirche heraufdringen, da geht es wie eine stille Andacht
durch diese weltliche Gesellschaft, und andächtig lauscht alles dem fernen Gesang:
Vom Himmel hoch, da komm’ ich her.


JDin’ lütt Junker.“


Skizze von Käthe Damm.

raußen im Park und auf den Feldern lag der erste Schnee, die dunkel-
grauen Sturmwolken jagten sich am Himmel, und über den laublosen
Bäumen und über dem weißen Schnee, der in kleinen dichten Flocken
niederrieselte, kreisten schreiend die Krähen. Von seinem Platz am Schreibtisch
aus sah der alte Freiherr von Werselitz in den düstern Tag hinaus, und seine
Brust hob sich wie in befreiendem Atmen.
Wie er so da saß, die aufrechte stolze Gestalt mit den wie in Erz ge-
hämmerten scharfen und finstern Zügen, mit den streng blickenden hellen Augen
unter buschigen Augenbrauen, wirkte er wie das Urbild eines energischen
charaktervollen Menschen, dem gleichwohl jede weichere Regung fehlt.
Ein einsamer Riese, ein ungebeugter Lebensheld trotz der vielen Wunden,
die ihm das Leben geschlagen. Jede Wunde, jedes Erlebnis hatte nur dazu ge-
dient, ihn noch finsterer, noch strenger, noch unnahbarer zu machen.
Und auch die wachsende Zahl der Jahre hatte ihn noch nicht mit der Milde
beglückt, die Trost und Glück und Freude sind.-
Solch ein Wintertag, an dem man keinen Ausblick auf den leisesten Sonnen-
strahl gewinnt, löste immer eine besondere Stimmung in dem alten Herrn
aus. Solch ein Tag war’s gewesen, als er einst sein junges Weib über diese
Schwelle geführt, solch ein Tag, als man sie nach kurzen zehn Jahren hinaustrug
in die Kirchengruft drüben hinter den Parkbäumen, solch ein Tag, als man
seinen Ältesten erschossen — im Duell gefallen, aus der Garnison hierher zu-
rückgebracht, solch ein Tag, als er seinen Zweiten und Jüngsten vor die Frage
gestellt: die geliebte Braut heiraten — dann aber Südamerika oder die Kolonien —•
oder die Verlobung mit der bürgerlichen Braut lösen — und dann gleich auf
Werselitz Herr sein. Jochen Werselitz, ehrenfest und charaktervoll, wie der
Vater ein Eisenkopf, hatte gewählt, hatte das Professorstöchterlein aus der nahen
Universitätsstadt geheiratet, den Rock des Kaisers ausgezogen und war als Kauf-
mann nach Argentinien gegangen.
Das alles und noch viel mehr, mancher Undank, mancher Verdruß, manche
Enttäuschung waren über Karol von Werselitz’ Haupt dahingerauscht, und so
war er der einsame gefürchtete Mann geworden. Es war ihm recht so. Er wußte
es gar nicht mehr anders, als daß er der gefürchtete Herr auf Werselitz war. —
Ein Klopfen an der Tür. Auf des Freiherrn Ruf trat der Diener herein.
„Nun?“
„Verzeihung, Herr Baron, der Herr Sanitätsrat Rolling fragt nach dem
Herrn Baron.“
„Wer hat denn den Sanitätsrat herbeigerufen, ich bin doch nicht krank?“
„Der Herr Sanitätsrat fuhr durch das Dorf, und da die alte Hanne Garve
seit zwei Tagen so krank ist, so hat Frau Hunold ihn gebeten, nach Hanne
Garve zu sehen.“
Planne Garve! Der Freiherr hatte Hanne, die steinalte Altenteilerin, die
früher auf dem Hofe gedient hatte und seit zwanzig Jahren, seit sie auch das
„kleine Vieh“, die Hühner, nicht mehr besorgen konnte, in einem entlegenen
ebenerdigen Stübchen des Schloßanbaues lebte und versorgt wurde, lange nicht
gesehen. Er wußte nur, daß Hanne Garves Voreltern schon seinen Voreltern
hier gedient, und daß Hanne Hausmädchen auf dem Schloß gewesen, als seine
Eltern sich verheiratet hatten.
Still bei sich dachte er, daß der Sanitätsrat wohl auch Hanne Garve nicht
vor dem Sterben bewahren könnte, und zu Martin sagte er: „Ich lasse bitten“.
Nun betraf des Sanitätsrats Besuch zwar eine andere Sache, eine behördliche
Impfangelegenheit, aber doch kam Hanne Garves Krankenlager zur Sprache.


[Nachdruck verboten.]
„Und Ihre Patientin, bei der Sie waren, Herr Sanitätsrat?“, fragte Herr von
Werselitz, als Kolling sich verabschieden wollte.
Der Arzt sah den alten Schloßherrn nachdenklich an. „Da will ein müder
Körper, der fast neunzig Jahre gearbeitet hat, zur Ruhe, Herr Baron, und eine
schlichte und doch in ihrer Art tiefe Seele kann sich noch nicht von dieser
armen gebrochenen Hülle lösen“.
„Neunzig Jahre! Und immer in fremdem Dienst und nie selbständig und
immer arm-“.
„Ja, Herr Baron, dieses Heldenleben hat da unten Hanne Garve auch gelebt.“
„Haben Sie etwas zu erinnern gefunden, Herr Sanitätsrat? Fehlt es für die
Alte an Pflege, an sachgemäßer Abwartung?“
„Nein, Frau Hunold hat alles bestens geordnet, die Gemeindeschwester ist
fast immer da, und wenn sie anders beschäftigt ist, sehen Frau Ilunold und die
Mädchen nach Hanne —- sie ist ja auch nicht eigentlich krank, es ist eben nur
das Verlöschen dieses Lebens.“
„Und der Geist der Kranken?“
Es fiel dem alten Freiherrn ein, daß er früher öfter von Hannes sonderbarem
Wesen gehört hatte.
„Der Geist ist vollkommen klar — aber er lebt in der Erinnerung, Hanne
Garve ist für sich, wenn sie spricht, nicht die Neunzigjährige mehr, die im Be-
griff steht, diese Welt zu verlassen, sondern sie ist die junge Hanne — sie
spricht mit andern Leuten, als um ihr Bett stehen, sie spricht mit „meiner
jungen gnädigen Frau,“ also mit Ihrer Frau Mutter, Herr Baron, und ruft dann
wieder nach ihrem lütten Junker, von dem sie durchaus Abschied nehmen will.
Der Chauffeur Volmer hat schon seinen kleinen Jungen mit an Hannes Bett ge-
bracht, um sie zu beruhigen, aber sie streckte abwehrend die Hände aus und
rief: „Dat is hei nich, wo hebbt ji min’ lütt’ Junker.“
Nur die Trauer darum, daß sie ihren Junker nicht sieht, stört die friedlichen
Ruhegedanken dieses Sterbebettes. Ich habe Frau Hunold ein beruhigendes
Mittel hiergelassen, vielleicht legt sich dann das Verlangen der alten Frau.
Jedenfalls ist sonst hierbei meine Kunst zu Ende. Aber ich muß weiter, und
die Wege sind tief verschneit, mein Auto kommt kaum vorwärts. Ich darf
mich also verabschieden — auf Wiedersehen, Herr Baron.“
„Auf Wiedersehen, Herr Sanitätsrat.“
Freiherr von Werselitz nahm seinen Platz am Schreibtisch wieder ein und
saß vor der Arbeit, die er begonnen, und die bald für den Rentmeister fertig
sein sollte. Aber seine Gedanken, die er sonst so gut sammeln konnte — o,
er hatte das geübt in den langen einsamen Jahren — konnten sich nicht auf die
langen Zahlenreihen richten. Nur eine Zahl sah er vor sich: „Neunzig Jahre“
und daneben sein Alter „Siebzig Jahre“. Wenn er nun auch noch wie jene alte
Dienerin, die in der Obhut seines Schlosses das Altersbrot aß, noch — zwanzig
Jahre lebte — immer weiter so einsam — immer weiter so streng — immer
weiter so gefürchtet und ungeliebt! Wie würde dann wohl sein Sterben sein —•
auch so, daß sich die Seele beim Hineinschauen in die Bilder der Jugend von
dem armen gebrechlichen Körper nicht trennen konnte? — Er schob die Papiere
beiseite und starrte unverwandt in den trüben Tag hinaus.
Seinen Spaziergang richtete Freiherr von Werselitz heute nach dem Teil
des Parks, wo der Schloßneubau mit den Dienerschaftswohnungen lag, und da
ihm die am Fenster sitzende Diakonissin das Stübchen Hanne Garves verriet,
trat er ein. Er reichte der Schwester die Hand und wendete sich zu dem Bette,
in dem, die großen blauen Augen weit geöffnet, Hanne lag. Ihr gelbbraunes

XXVIII. W.-No. 23.
 
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