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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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9. Heft
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Buss, Georg: Zur Genealogie des Silvesterpunsches
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0273
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I 12

Zur Genealogie des Silvesterpunsches.

Von Georg Buß.


kas Brauen eines guten Silvesterpunsches ist eine löbliche Kunst. Sie
übertrifft an Geschmack manche Atelierkunst. Es gibt da wie in der
Malerei und Skulptur eine alte und eine neue Richtung. Kenner halten
die alte, weil primitiver, für die bessere. Meister solchen Punschbrauens nach
altem Rezept heißen daher „die Primitiven“. Zu ihnen zählt der Oberförster
in der Stadt Dingsda, einem Nest im wald- und wildreichen Spessart, wo auf
jeden Baum ein grober Schwarzkittel kommt.
Weil das Nest noch keine Wasserleitung hat, bilden Rettungsstationen gegen
den fürchterlichen Durst das Gasthaus zum blauen Plecht und das Grand Hotel
Britannia. Die Herren Junggesellen bevorzugen aus verschiedenen Gründen den
blauen Hecht: erstens klingt ihnen der Name sympathischer, zweitens ist die
Bude mit dem schweren Stammtisch, der braunen Balkendecke und dem ge-
waltigen Kachelofen, der des stärksten Frostes spottet, urgemütlich, und drittens
ist da die Theres, das achtzehnjährige Wirtstöchterlein, eine blonde Jungfrau
tadellosen Wuchses, himmelblauen Auges, frisch, rosig und alleweil fidel, deren
Linke des Verlobungsringes noch entbehrt. Solcher unwiderstehlichen Attraktions-
kraft folgend, tauchen die Herren zum gewohnheitsmäßigen Früh-, Mittags- und
Abendschoppen immer sehr pünktlich auf —ja, einer sucht den andern Theresens
wegen an Präzision des Erscheinens zu übertreffen. Der Referendar läuft sich
geradezu die Hacken ab, doch der schlaue Regierungsbaumeister ist fixer: hat
Quartier dem Hecht gerade gegenüber bezogen, steht ewig auf der Lauer und
hüpft, sobald er den Referendar auf Entfernung eines halben Kilometers heran-
traben sieht, schadenfroh hinüber.
Heute geht’s im Hecht hoch her — Silvester! Das sagt alles. Die ganze
Korona ist um den Stammtisch versammelt. Man disputiert über allerlei Wichtig-
keiten, auch über Punsch. Er dampft in den Gläsern und in dem Riesengefäß,
das inmitten der Herrschaften als weisheitsvoller Mimer-Brunnen thront. Wer
aus diesem Brunnen trinkt — so heißt es schon in Odins Tagen — der erfährt
manches Geheimnis der Vorzeit. Der Oberförster hat den Trank gebraut.
Die Oberförster verstehen solche Geschichten äus dem FF, aber der in Dingsda
aus F3. Alle bekräftigen, daß die alte Richtung famos sei. Zwar ist der Referendar
als Sezessionist für die neue, doch nur theoretisch, denn heute kneipt er für Sechse.
„Die Modernen doktern im Punsch zuviel zusammen“, sagt der Ober-
förster mit Verachtung, „und wo viel gedoktert wird, kommt, wie alle Welt
weiß, selten was Gutes heraus ..."
„Erlauben Sie“, ruft der Doktor pikiert, „soll das
eine Spitze sein? Im Namen aller meiner Herren
Kollegen muß ich energisch bitten, sich solcher völlig
haltlosen Beschuldigungen zu enthalten.“
Aber der graubärtige Grünrock fährt unter dem
Lachen der Korona gelassen fort: „Vor lauter Sekt, Rot-
spon, Rheinwein, Mosel, Madeira, Portwein, Maraschino,
Sahne, Eigelb, Eiweiß, Orangen, Ananas, Vanille und
wie all das andere Apothekerzeug heißt.“
„Was — Apothekerzeug?“ Der Apotheker ist ent-
rüstet aufgesprungen: „Im Namen aller abwesenden
Kollegen muß ich gegen solche Verunglimpfung ...“ Sein
flammender Protest erstirbt im allgemeinen Gelächter.
„Weiß man schließlich nicht mehr“, wiederholt der
Oberförster, „was das Gebräu ist — ob Glühwein, Kar-
dinal, Bischof oder wirklich Pansch!“
„Hört! Hört! Sehr wahr!“ Der Posthalter war mal
im Reichstag — doch nicht unten im Saal, sondern oben
auf der Zuschauertribüne — und liebt seitdem solche
inhaltsreichen Interjektionen über die Maßen.
„Ein Punsch muß Charakter haben“, belehrt der
alte Nimrod. „Überhaupt soll jedes Gericht Charakter
haben. Ist Hase wie Reh, Ente wie Gans, Feldhuhn
wie Birkhuhn, Wirsing- wie Weißkohl zubereitet, so hat
die Kochkunst ein Loch — ein großes Loch! Darum
Lob und Preis unserem verehrten Wirt vom blauen
Hecht, der zeitweise bestrebt ist, wirklich individuell
behandelte Speisen und ohne die scheußliche General-
tunke zu servieren. Prosit, Herr Wirt! Möge er den
rühmlichen Fortschritt im kommenden Jahre immer ener-
gischer betreiben! Und was den Punsch betrifft, so liegt
sein Charakter im Arrak oder im Rum. Werden sie
von vielen andern Zutaten terrorisiert, so ist der Punsch
futsch! Futsch, meine Herren! Denn seine Urwüchsig-
keit, Gediegenheit, Kraft, Volkstümlichkeit gehen zum
Teufel, sind geopfert fader Eleganz, protzigem
Parvenütum, das mit einer Menge Ingredienzien
prunken will, wo einzig Einfachheit geboten ist.“



IniUuna

[Nachdruck verboten.]
„Sehr wahr! Sehr richtig! Ganz meine Meinung!“ bekräftigt der Posthalter.
„Die Schwerkraft ruht einzig in Arrak und Rum!“
„Und da die Schwerkraft gleich Anziehungskraft der Erde ist, so ist es sehr
begreiflich“, fügt der Referendar hinzu, „daß Kneipbrüder nach längerem Proben
von Arrak und Rum mächtig zu Boden stürzen“.
Entzückt über diese gediegene wissenschaftliche Auseinandersetzung, trinkt
der Posthalter dem jungen Herrn freundschaftlich zu.
Der Wirt vom blauen Hecht stellt einen Chimborasso frischer Pfannkuchen
auf den Tisch. Ihr süßer Duft mischt sich mit dem aromatischen Dampfe des
Riesengefäßes zu so schwerem Odeur, daß der besorgte Doktor trotz allgemeinen
Protestes für vermehrte Ventilation sorgt.
Gelassen schwingt in dem Dunst die Standuhr mit eintönigem Ticktack
das Pendel. Der Oberlehrer weist auf den altväterlichen Kasten hin: „Noch
fünf Minuten, dann hat Chronos wieder ein Jahr gefressen — dieses Mal ein
schwer verdauliches!“
„Ja, ja“, sagt der Referendar, „so’n Jahr mit dem Balkankrieg und den
gräßlichen Kongressen und Bömarches muß ihm doch im Halse stecken bleiben,
wie uns der ewige Schweinebraten im blauen Hecht. Übrigens will Montenegro,
dieses Karnickel in Permanenz, dem der Königsruhm entschieden zu Kopp ge-
stiegen ist, wegen Geldklemme ä tout prix beim Losschlagen bleiben — es will
losschlagen alle eroberten Stiebei, Hosen, Röcke, Säbel, Flinten und Kanonen.
Halb Polen hat sich zum großen Geschäft schon in Trab gesetzt. Der Kampf
wird fürchterlich werden, besonders in Hosen und . . . .“
„Nur noch zwei Minuten“, unterbricht der Oberförster die lose Rede.
„Achtung, daß wir den großen Moment nicht verpassen!“
Erwartungsvolles Schweigen. Ein gewisser feierlicher Ernst. Die Minuten
mindern sich zu Sekunden. Jeder lauscht ....
Horch! Vom Kirchturm dringen durch die sternklare Winternacht harte
Glockenschläge .... Beim zwölften Schlage ringt sich der gewaltige Jubel-
schrei los: „Prost Neujahr!“ Männer, Frauen, Kinder, sie schreien das „Prost
Neujahr“ in Straßen und Gassen, aus Fenstern, Haustüren und Toren. Da-
zwischen feierliche Posaunenklänge, melodisches Glockengeläut, Krachen von
Schüssen und Knattern zum Himmel rauschender Raketen, deren Farbengarben
leuchtend herabschweben. Im ganzen Nest flammt der Aufruhr Silvesters.
Die Stammtischkorona ist außer Rand und Band.
Das „Prosit Neujahr“ will nicht enden. Die Gläser
klingen fortissimo, furioso, violento. Gelächter, Jubel,
Stimmengewirr wirbeln durcheinander. Kräftige
Händedrücke begleiten gute Wünsche, frohes Hoffen
leuchtet aus jedem Blick, Apotheker, Baumeister
und Referendar trinken in feurigem Punsch auf
ewig Brüderschaft.
Nur langsam ebbt sich die Hochflut. Der Doktor
klingelt ans Glas und beginnt mit einer Rede. Sie
verspricht brillant zu werden. Eben ist er im besten
Zuge, als jemand in’s Zimmer schießt. Der Refe-
rendar schaut auf — Donnerwetter, Minna! — Der
Schreck fährt ihm in die Glieder — er kennt die Küchen-
fee von der Studentenzeit her, hat oft im Schwarzen
Adler der Musenstadt sehr vergnügt mit ihr gewalzt
und getändelt. „So’n Pech gleich im neuen Jahre!“
Vorsichtig nimmt er hinter dem Apotheker Deckung.
Minnas Antlitz ist vor Aufregung gerötet. Ihre Mienen
drücken Kampf aus, unzweifelhaft Kampf gegen ihn, den
Treulosen. Er verspürt ein gelindes Zittern. „Vei fluchte
Geschichte!“ Sie wendet sich zum Doktor: „Der Herr
Rat lassen Herrn Doktor schleunigst bitten — aber
schnell — von wegen der Frau-es kommt was!“
Homerisches Gelächter. Minna zieht sich beschämt im
Schnelltempo zurück. Dem Don Juan fällt ein Stein
vom Herzen — eine Szene des Wiedersehens mit „Du“
und „Adolar“ wäre scheußlich gewesen. Der Doktor
stoppt seine Eloquenz mit einem Schockschwerenot. Die
Pflicht geht vor — im Sturmschritt folgt er Minnas
Spuren. Als oratorischer Stellvertreter nimmt der Ober-
lehrer das Wort. Er spricht gründlich, gediegen und
mit jener formvollendeten Eleganz, die sich an Cicero
in Catilinam und in Verrem klassisch geschult hat.
Erst gegen Ende der Bandwurmrede wird der Beifall
lebhafter.
„Und nun, meine Herren“, schließt unter stürmi-
schem Beifall der Redner, „lassen Sie uns dem ent-
schwundenen Jahr ein stilles Glas des Gedenkens weihen“:

Der Werdegang einer Sängerin:
Der verrohte Kritiker.
 
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