Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

DOI Heft:
13. Heft
DOI Artikel:
Klitscher, Gustav: Der Platzhalter
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0385
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
i66

MODERNE KUNST.

Der Platzhalter.
Von tiustav Klitscher f



■■■ .F \ »sj;*-' ■ •?:r


[Nachdruck verboten.J
'in junger Mann kann noch so glücklich sein, ein-
mal erfaßt ihn doch das unbezähmbare Ver-
langen, sich zu verheiraten. So war es auch
dem Oberpostassistenten Erich Dircksen ergangen.
Als der besagte Wunsch immer heftiger in ihm auf-
gelodert war, hatte er unter den Töchtern des Landes
Umschau gehalten, und bei dieser Umschau waren seine
Augen mit Wohlgefallen auf Fräulein Nelli Wölflin haften
geblieben, an deren schlanker Gestalt und blondem Kopf er
einen ganz besonderen Liebreiz entdeckt zu haben glaubte.
Die Saison ging schon zu Ende, als Dircksens Neigung
ihre ersten Blütenknospen trieb. Nur auf wenigen ge-
selligen Vergnügen hatte er Nelli getroffen, aber diese
wenigen Male hatten genügt, um Neliis höchst verständige
Mutter zu veranlassen, die Person des ledigen Staats-
dieners ernsthaft in den Kreis ihrer fürsorglichen Be-
trachtungen zu ziehen. Mein Gott, sie hatte vier Töchter
zu Hause — Ehre ihrer Umsicht! Es liegt also Grund
zu der Annahme vor, daß es nicht ohne Absicht geschah,
wenn sie dem Herrn Oberpostassistenten bei günstiger
Gelegenheit so ganz beiläufig mitteilte, sie würde mit
ihrer Familie diesen Sommer in einem bekannten Bade-
orte verbringen.
Dircksen verstand durchaus. Der Weg zu der so-
genannten ehrbaren Annäherung war offen. Und er be-
schloß, den Weg zu gehen.
Bald darauf bemerkten die Badegäste auf der Kur-
promenade von X. fünf wohlansehnliche Damen in Beglei-
tung eines nicht minder wohlansehnlichen jungen Mannes,
welcher einem blonden Lockenkopf unter den fünf wohl-
ansehnlichen Damen den Hof machte.
Der Hofmacher war natürlich Dircksen. Er war
glücklich oder glaubte es doch zu sein, denn Neliis Lieb-
reiz erschien ihm von Tag zu Tag unvergleichlicher.
Nur dann und wann kamen ihm peinliche Augen-
blicke, da er an seinem Glücke zweifelte. „Wem nie
der Liebe Leid geschah —“ Sein Leid war gewiß nicht
eins von den schwersten. Aber es stellte doch an seine
Nerven hin und wieder nicht elaen kleine Anforderungen.
Um es kurz zu sagen: der heiratslustige Jüngling fand es
nicht ganz leicht, den Cavaliere servante für fünf Damen
zu machen. Theaterbilletts besorgen und Bücher aus
der Leihbibliothek besorgen und Wagen besorgen und
einen Tennisplatz besorgen und tausenderlei häufig nicht leicht zu beschaffender
Dinge besorgen — das war oft hart. Und dann immer noch darauf warten zu
müssen, bis die fünf Damen mit ihrer Toilette und allen sonstigen Vorbereitungen
so weit waren, die besorgten Herrlichkeiten genießen zu können — nicht immer
waren sie pünktlich, o nein — das erforderte Geduld.
Und dabei trugen die Damen bei all ihren Wünschen eine so beneidenswert
sichere Selbstverständlichkeit zur Schau. Erich Dircksen begann eine graublaue
Ahnung aufzudämmern, daß das Heiraten nicht ein so ganz einfaches Ding wäre.
Wenn bereits das Werben solche Schattenseiten hatte! Aber er tröstete sich.
„Wem nie der Liebe Leid geschah“.
„Mein lieber Herr Dircksen,“ sagte Frau Wölflin, und ein besonders herz-
licher Ton durchzitterte ihre etwas fettige Stimme, „Sie waren so sehr gütig, die
Karten für das morgige Wagnerkonzert im Kurpark zu besorgen; nun habe ich
noch eine große, große Bitte — gehen Sie ein wenig zeitig hin und halten Sie uns
einen Tisch frei, Sie wissen, es ist immer so voll, und für fünf Personen ist so
schwer Platz zu bekommen.“ Dircksen wußte das. Nichtsdestoweniger verzerrte
ein unnatürliches Lächeln freundlichster Zustimmung sein Gesicht, und seine
Lippen stammelten eine Versicherung ganz besonderen Vergnügens, von dem
sein Herz nichts wußte. Aber der ermutigende Dankesblick, der ihn aus ein
paar gewissen blitzenden Augen traf, entschädigte ihn für alle Leiden, die da
kommen konnten. Ach Nelli, hätte dein jungfräuliches Herz ein Vorgefühl ge-
spürt von dem, was geschehen sollte, deine blitzenden Augen hätten nicht dank-
bar und ermutigend geblickt.
Er fand sich, durch manche trübe Erfahrung genötigt, schon eine gute Stunde
vor Beginn des Konzerts im Garten des Kurhauses ein. Auf diese Weise
glückte es ihm ohne große Mühe, einen bequemen Tisch in der besten Lage mit
Beschlag zu belegen. Er bestellte eine Tasse Kaffee und zog fünf Stühle zu
sich heran, worauf der Kellner mit allen Zeichen maßloser Mißstimmung er-
klärte, Plätze zu reservieren, wäre nicht gestattet. Dircksen gab ihm einen Taler,


William 'I

worauf die maßlose Mißstimmung des dienenden jungen Mannes sichtlich schwand
und einer zutraulich herablassenden Duldsamkeit Platz machte. Dircksen hatte
die Taler eigentlich nicht so üppig übrig. Aber er sagte sich: für spätere
kriegerische Kämpfe, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ausbleiben werden,
ist ein schätzenswerter Beistand gewonnen, zum wenigsten aber ist ein nicht
ungefährlicher Feind beschwichtigt.
Und die kriegerischen Kämpfe blieben in der Tat nicht aus.
Wie jeder rechte Krieg begannen sie mit kleinen Geplänkeln und Schar-
mützeln. Die Tische in der Nähe des bevorzugten Platzes, den Dircksen sich
erwählt hatte, waren allmählich besetzt worden. Andere aber in weiterem Um-
kreise blieben noch frei. Das hinderte jedoch die vorübergehenden Platzsucher
nicht, mit hämischem Seitenblick auf die fünf umgeklappten Stühle allerhand
Bemerkungen zu machen, die zwar nur von der rein menschlichen und infolgedessen
entschuldbaren Entrüstung ihres Inneren unzweideutig Kunde gaben, für den jedoch,
den sie angingen, nicht immer durchaus lieblich und angenehm zu hören waren.
„Komm doch Tante,“ ruft ein holder Sopran neckisch und tändelnd, „hier
ist ja Platz“ — und ein baßartiger Alt antwortet im Tone tiefster weltschmerz-
licher Entrüstung: „Du siehst doch Kind, reserviert“ — worauf der neckische
Sopran herb mit starkem Achselzucken: „Mein Gott — wie kann man fünf Plätze
reservieren!!“ Sopran und Alt bleiben zaudernd stehen. Vielleicht erwarten sie
ein Entgegenkommen.
Der Oberpostassistent aber beschäftigt sich so angelegentlich mit seinem
Kaffee, daß er schneller mit ihm fertig wird, als er beabsichtigt hat.
„Kellner, ein Pilsner!“
Sopran und Alt treten den Rückzug an, nicht ohne ziemlich deutlich etwas
sehr rücksichtslos zu finden. — Zwei Herren nähern sich dem Tisch.
Eine scharfe Stimme: „Sie erlauben? — Ah Pardon — belegt? — Ich dachte
an Wagnertagen wäre das Belegen nicht gestattet.-Für Ihre Damen?-
Pardon — selbstverständlich.“

MODERNE KUNST.

167


Phot. G.
Childe Harold.
Eine zweite Stimme: „Verzeihung — aber bei der Fülle schon ein bißchen
schwierig — Platz zu bekommen.“
Und dann die erste scharfeStimme zur zweiten im Abgehen: „Fünf Damen!
— der Knabe scheint Mormone zu sein.“
Mißmutig sah Dircksen nach der Uhr. Das Konzert mußte in zehn Minuten
beginnen. Aber vergeblich ließ er sein suchendes Augenpaar in die Ferne
schweifen. Von den Wölflinschen Damen war weit und breit noch nichts zu
sehen. „Ach Nelli!“ seufzte der Heiratslustige. Und es lag sehr viel Bitternis
in diesen drei Seufzersilben.
Inzwischen hatte sich der Garten gefüllt.
Ein Strom von Zeitgenossen schob sich durch die Gänge, zumeist aus
Platzsuchern bestehend, die zu spät gekommen waren. Tausend. begehrliche
Augen richteten sich auf Dircksens leeren Tisch, der wie eine verheißungsvolle
Oase in der Menschheitswüste weithin leuchtete.
Jeden Augenblick trat einer der Wandelnden an den glücklich Besitzenden
heran: Verzeihung, die Stühle sind wohl frei?" und mit immer gesteigerter
Heftigkeit erwiderte jener: „Nein — Sie sehen doch —- belegt! Und dabei spielte
das Orchester aus Lohengrin: „Nie sollst du mich befragen, noch Wissens
Sorge tragen.“
Der Oberpostassistent überlegte, ob es nicht auf irgendeine Weise möglich
wäre, den Kapellmeister umzubringen. Aber lange Zeit zu ruhiger Überlegung
blieb ihm nicht. Der Ansturm der Begehrlichen wurde immer drängender.
Sehnsüchtig schaute er nach der Eingangspforte und 'kam sich vor wie
Wellington bei Belle-Alliance: „Ich wollte, es wäre Abend oder die Preußen
kämen!“ Aber von den Wölflinschen Damen war immer noch nichts zu sehen.
„Peinvolle Plage, Müh’ ohne Zweck“ spielte das Orchester, diesmal durchaus
passend und zutreffend. Der erste Teil des Programms ging zu Ende. Der
Oberpostassistent bestellte aus Verzweiflung das dritte Pilsner. Aber auch diese’
heroische Aufopferung vermochte ihn nicht zu retten.

Sein Verhängnis erfüllte sich.
Plötzlich erschien cs ihm, als verfinsterte sich die
Sonne, und als er erschrocken aufblickte, standen zwei
Riesengestalten vor ihm, Mann und Weib, beide groß,
beide gleich dick, beide gleich unförmig, nur daß die
Frau noch ein wenig massenhafter erschien, weil sie
einen sehr feisten Hund von gänzlich undefinierbarer
Abstammung an den Busen drückte. Ohne auf Dircksen
auch nur die geringste Rücksicht zu nehmen, ließen sie
sich prustend und stöhnend auf zwei der kostbaren Stühle
nieder, während die Dame auf den dritten mit viel um-
ständlicher Zärtlichkeit den undefinierbaren Hund setzte.
„Erlauben Sie,“ schrie Dircksen, „die Plätze ge-
hören mir.“
Aber weder der Bierhuber noch seine Gattin rührten
sich vom Fleck. Kaum daß jener ein wenig den Kopf
bewegte, während er mit tiefer Baßstimme sagte: „Na dös
gibt’s net. Mir san mir, und wo mir amal san, da san mir.“
Und die dicke Dame scherzte mit dem Hund: „Schaust,
Mopperl, da ha’m mir noch a schönes Platzerl g’funden.“
In dem unglücklichen Platzhalter kochte eine heiße
Wut empor. Deshalb hatte er hier stundenlang in Angst
und Not und Qual gesessen, damit schließlich dieses
elende Mordsviech, diese Kreuzung von Flunder und Wind-
spiel seinen teuer gehüteten Platz einnahm!
„Bitte, nehmen Sie den Hund von meinem Stuhl
hinunter“, rief er wild. Aber der Bierhuber erwiderte
mit einer Seelenruhe, die Dircksen den letzten Rest
seiner Fassung raubte:
„Fallt mir net im Traum ein.“
Da beging der kaiserliche Beamte eine Tat der Ver-
zweiflung. Er ergriff mit beiden Händen das feiste Tier,
setzte es ziemlich unsanft zu Boden, und zog mit einem
energischen Ruck den Stuhl an sich.
„So“, sagte er, tief aufatmend, und war einen glück-
lichen Augenblick der Ansicht, daß die Angelegenheit
damit erledigt wäre. Ganz anderer Ansicht waren jedoch
das beleibte Ehepaar und der nicht minder beleibte Hund.
Letzterer bewies einen hohen Grad von Intelligenz und
Geistesgegenwart, indem er sofort ein erschreckliches
Geschrei und Gewinsel über die ihm angetane schlechte
Behandlung erhob, seine Herrin jammerte und zeterte
um ihren mißhandelten Liebling und der Gatte erging
sich in einer Reihe von unzweideutigen Kernausdrücken,
die alle auf ein außerordentlich geringes Maß von Hoch-
achtung vor der Person des Oberpostassistenten schließen
ließen. Von den Nebentischen ertönten Rufe um Ruhe.
Das Publikum schien der Meinung zu huldigen, der
Auftritt wäre nicht geeignet, den Eindruck von Isoldens
Liebestot, den das Orchester soeben spielte, wesentlich
zu erhöhen. Aber der Bierhuber kümmerte sich um keine Rufe. Er griff nur
fauchend und schnaufend unter den Tisch und mit einem ebenso energischen
Ruck wie es vorher sein Gegner hinabbefördert hatte, hob er das heulende Tier
wieder auf den Stuhl hinauf. Das war zuviel für Dircksens Nerven! In hellem
Zorn sprang er auf, ergriff Mopperl mit beiden Fäusten und schleuderte ihn mit
einem erschrecklichen Fluch auf den Boden.
Der Hund heulte, die dicke Dame stieß einen gellenden Schrei aus und trat
Anstalten, in Ohnmacht zu fallen, der Bierhuber aber sprang ebenfalls auf und
schlug mit der Faust auf den Tisch, daß er krachte.
Ein sehr erregter Wortwechsel folgte, an dem schließlich die Umsitzenden in
weitem Kreise tätigen Anteil nahmen. Furchtbar wogte der Redekampf, bei dem
eigentlich nur der Kellner auf Dircksens Seite war, ein Bundesgenosse, den dieser
nicht gerade sehr rühmlich empfand. Schließlich erschien der Geschäftsführer, der
den Streit salomonisch dahin entschied, daß der Hund zwar nicht auf den Stuhl
gehörte, daß „der andere Herr“ aber auch kein Recht hätte, Plätze zu reservieren.
Über diese Entscheidung beruhigte man sich allmählich wieder. Die Musik
spielte den Chor der Friedensboten aus Rienzi, und Dircksen setzte sich, nicht
ohne eine gewisse Genugtuung, gegen das dicke Vieh den Platz behauptet zu haben.
Aber er sollte sich nicht lange dieser beglückenden Genugtuung erfreuen.
Drei sehr elegante Damen, die eine Sprache redeten, die er nicht verstand,
bemächtigten sich ohne weitere Förmlichkeiten seiner drei Stühle. Noch wagte
er einen bescheidenen Protest. Aber aus holdlächelndem Munde erhielt er die
Antwort: „Jawohl — mein Herrrrr — serrrrr liebenswürdig. Wir nehmen gern
diesen Sitz “ Da sah er ein, daß alles vergeblich war, und daß er sich in sein
Schicksal fügen müßte. Ein Blick auf die Uhr belehrte ihn, daß bald eine Stunde
seit Beginn des Konzerts verflossen war. Die Wölflinschen Damen aber waren
noch immer nicht zu sehen.
Da verdrängte ein bitterer, nach Taten lechzender Groll seinen melancholisch-
resignierten Ach-Nelli-Jammer. — Es war doch wirklich allzu rücksichtslos, ihn

Chusseau-11 laviens, Paris.
 
Annotationen