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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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17. Heft
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Freimark, Hans: Ein Buch
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0500
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Ein Buch. «=4^
Von Hans Freimark.

ie Zeit dehnte sich. Berge flogen an den rollenden Rädern vorbei, als sie
den Zug bestiegen hatten. Berge, deren Gipfel kalt und leuchtend in
blauer Wärme standen. Die Berge waren zu Tälern herabgesunken, zu
Wiesen und Obstgärten, über denen dicke Wolken Nässe hinschleiften.
Die Täler hatten sich wieder erhöht zu Hügeln, zu rebenumstandenen Hängen.
Aus schwindendem Dunst strahlte zärtliche Sonne, die schwere Nacht war frischen
Morgenwinden gewichen.
Ein Tag war dahingegangen. Stunden des Tages und Stunden der Nacht.
Ein neuer Kreislauf hob an. Und das Ziel war noch fern.
Sie kannten sich nicht. Fremd waren sie zwischen Fremde geraten, mit
denen sie die Fahrt teilten. Doch die kamen und gingen, und andere nahmen
ihre Plätze ein. Nur ein paar waren seßhaft
gleich ihnen. Aber diese drückten sich in
ihre Ecken, völlig Abwehr. Wie Mauern wa-
ren diese verschlossenen Gesichter, Mauern,
die sie zu einander zwangen. Doch sie wollten
nicht zu einander, denn sie wußten nichts
weiter von sich, als daß sie Russen waren.
Das hatte ihnen der erste Blick gesagt.
Mehr nicht. Sie war nicht schön, und er
hatte ein alltägliches Gesicht. So trieben sie
stumm in dem Strom, der sie durch die Zeit
führte, eilend, und doch langsam, endlos
langsam.
Die Erschöpfung des Getriebenseins legte
sich auf sie. Der junge Morgen brachte keine
Kraft, er brachte nur ein Aufschrecken zu
hastigem Imbiß. Dann ein tieferes Versinken
in Dämmerschlaf, in ein Gleiten zwischen
halbem Wachen und letztem Lösen aller
äußeren Scham. Jede Achtsamkeit vor dem
anderen schwindet. Entbunden suchen Ge-
sichter und Glieder einzig Ruhe. Sie schlief
zusammengekauert, ein warmes, weiches
Tier. Die etwas schlaffen Wangen, der ein
wenig geöffnete Mund gaben ihr einen Zug
rührender Kindlichkeit. Die vollen Lippen,
über die der Atem leise strich, waren da-
gegen gespannt wie Segel, die eine Sehn-
sucht aufgezogen. — Er schlief schwer, in
sich geduckt belastet, stöhnend, oft auffah-
rend mit kurzem Ruck, der ihn zusammen-
riß, und doch rasch wieder in die gequälte
Haltlosigkeit versinkend.
Der Tag stieg. Die Sonne brannte heller.
Die Rebhügel hatten sich zu Getreidefeldern
geebnet, auf denen scharfe Sensen in braunen
Händen das Korn in Schwaden niedermähten.
In den Erschöpften begann das Leben um ein
geringes rascher zu pochen. Sie kämpften
gegen das Hingenommensein der Ermüdung.
Er mit Zigaretten, sie mit einem Buch. Sie
kämpften unsicher. In dieser Unsicherheit
entglitt ihr das Buch.
Er hob es auf, warf einen Blick auf das Titelblatt und reichte es mit einer
Frage zurück. Sie gab eine kurze Antwort. Schweigen.
Weiter durch die Zeit, weiter. Die Getreidefelder verglitten in sandige
Ebenen, in schüttere Kiefernstände, über denen greller Mittag lohte. Das Leben
war auf seiner Höhe. Die Müdigkeit abgetan. Es drängte zu Äußerungen, zu
irgend einem Tun, zu einem Anschluß an anderes Leben. Er wandte sich mit
einer belanglosen Bitte an einen Mitreisenden. Die Bitte wurde erfüllt, das ge-
heime Verlangen nach anregender Ansprache höflich übersehen. Sie gab einer
neugierigen Nachbarin Bescheid, gelassen und etwas überheblich. Auch dort
vertrocknete der Redefluß bald. Und dennoch wollte das Leben Geschehen.
So erneuerte er seine Frage nach dem Inhalte des Buches und erweiterte sie.
Diesmal war ihre Antwort nicht kurz, sie sprach begeistert. Sein großer breiter
Mund lächelte kühl. Sie wurde eifriger und pries das Buch. Er nahm es, warf
ein paar Blicke hinein und stellte wieder Fragen, Fragen, die Vergleiche waren.
Sie sagte nicht ja, nicht nein. Sie setzte seinen Sätzen ihre Meinung
entgegen.
Nun wurde er lebhaft. Seine Rede stieg und fiel, wurde breit, ausladend, spitzte
sich zu, um nach kurzer Atempause auf neuem Grunde verankert, sich wieder
in die Höhe und Weite zu bauen. Seine Blicke unterstrichen einzelne Worte,

[Nachdruck verboten ]
seine Hände formten die Begriffe zu Gestaltern Er wurde fast schön in diesem
Glühen der Gedanken.
Sie genoß es mit Behagen. Ihre Nasenflügel zitterten, als wollten sie einen
berauschenden Duft einsaugen. In ihren Augen stand ein feines Glimmen. Sank
das Feuer seiner Rede, so fachte sie es an mit kurzer Bemerkung, mit einer
zweifelnden Kopfwendung, einer gleitenden Bewegung ihrer runden fleischigen
Hände.
Dann kam er mit neuen Gründen, die sie mit anderen Einfällen beant-
wortete, mochten diese Einfälle auch nur ein leises ruckendes Lachen sein, das
ihr festes Kinn hob, die Lippen weit öffnete und die harten starken Zähne frei
gab, oder ein sachtes Heben der runden, fallenden Schultern. Von dem Buche
fort, drängte sie das Gespräch zum Leben.
Ja, das Leben!
In seinen Augen war ein dunkles Fragen.
Sie lächelte: Fragen? Für sie gab es
keine Fragen. O, das Leben war einfach.
Man gab und nahm. Man genoß es und
ließ sich genießen. Was weiter?
Er schüttelte den kurzgeschorenen Kopf
und hob ihn straff mit steifem Nacken: Nein!
Seine Hände wehrten heftig: Nicht genießen,
Dienst ist das Leben!
Wiegend hob sie sich aus der lässigen
Lage, neigte sich schmeichelnd vor: Freilich
dienen. Sich hingeben ist Dienst am andern.
Noch fester riß er sich zusammen: Wel-
che Verkennung! Welche Verwirrung der
Begriffe! Das Leben ist heilig und muß
heilig gelebt werden.
Es ist ein Spiel!
Er zuckte zusammen: Ah! Und seine
Stimme wurde tönend wie die eines Predi-
gers, seine Hände hoben sich warnend, be-
schwörend.
Sie ließ weich die Schultern fallen, lehnte
sich wieder zurück, lächelte und ließ sich
von seiner Beredsamkeit umwogen.
Er sprach eindringend.
Ihr Mund hatte Einwände, ihre Augen
Bewunderung.
Und plötzlich schauerte er unter diesen
strahlenden Blicken. — Einen Augenblick
stockte seine Rede, die erhobene Hand sank
und tastete wie nach einem Halt um sich.
Doch schnell hatte er sich gefaßt, sprach
weiter. Aber sein Ton war wärmer als
vordem.
Sie bemerkte es anfangs nicht. Dann
mit einem leichten Erschrecken. Das trieb
sie auf aus ihrer Lässigkeit. Sie gab sich
eine sichere Haltung und unterbrach ihn
kühl und abweisend.
Doch die Abweisung steigert seinen Eifer.
Er wollte nicht mehr nur überzeugen, er
wollte gewinnen. Ihre Blicke hatten ihm verraten, daß ein Preis seiner Mühe
werden konnte. Um diesen Preis rang er jetzt. Der Mann in ihm trat den
Denker nieder. In loderndem Haß trat er ihn nieder, verriet, was sein höchstes
Ideal war, und hatte nur ein Begehren: zu besitzen, was sich ihm bot.
Vor dieser Leidenschaft zitterte sie zurück. Da war endlich, was sie so
lange ersehnt hatte,, ein Mensch, der nicht fragte, wer sie war, was sie war, der
nur sie wollte. Sie. brauchte nur die Hand auszustrecken, und er gehörte ihr.
Aber was dann? Was wußte sie von ihm? Nichts, als daß er kluge Gedanken
hatte, Gedanken, anders wie die ihren, Gedanken, die er jetzt um ihretwillen
beiseite stieß. Und sie dachte an die kleine Stadt, in der sie daheim war,
wohin sie jetzt fuhr, dachte an die Eltern, die Großeltern, an ihre verheiratete
Schwester und all die anderen Verwandten. Und auf einmal erschien ihr un-
sinnig und toll, was sie noch vor wenigen Sekunden für die einzige Wahrheit
des Lebens gehalten hatte. Nein, sie konnte nicht einem wildfremden Manne
angehören, konnte nicht leicht hinwegschreiten über Sitte und Brauch. Sie
schloß die Augen: nur nichts mehr hören müssen!
Sie mußte freilich hören, hören, wie es von seinen Lippen raste: er war
Gatte, war Vater. Aber was galten ihm Frau und Kinder, jetzt, wo er sie ge-
funden hatte. Ja, sie hatte recht: Nehmen und geben.



Neuzeitliche Holzbildkunst. Ernst Herter: Moses.
Verlag Neue Photogr. Gesellschaft A.-G. Steglitz.
 
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