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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

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20. Heft
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Marilaun, Carl: Mexikanischer Bädecker
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https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0613
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MODERNE KUNST.



Anna Pawlowa.

auf diesen vier
Hufen durchs
Land oder rum-
pelt in einem Post-
karren durch die
Prärie, mit dem
sechsläufigen Re-
volver im Gürtel,
auf alles gefaßt,
mit allem zufrie-
den, ohneAhnung,
daß es Telegraph
und Telephon,
fahrplanmäßig
verkehrende Züge,
Palastschiffe und
Royalhotels gibt.
Man kehrt zum
Anfang der Welt
zurück: er heißt
Mexiko. Tausend-
jährige Zedern
rauschen da, Eis-
gipfel strahlen zu
Palmen herab,
nachts hinter der
Agavenhecke
klagts und singts
in merkwürdig
rauhen, scheuen
Urlauten: India-
ner sind’s, oder
waren es vielmehr.
Statt Mokassins tragen sie nun ja leider zerrissene Zugstiefel, oder sie laufen
barfuß über diese Erde voll Dornen, auf der es immer die andern sind, die
sich weich zu betten verstanden. Dem Reisenden, der ahnungsvoll seinen
Revolver lockert, beteuern sie tränenreich ihre unendliche Ergebung, und es
stellt sich heraus, daß diese Helden unserer Knabenträume die Nacht durch-
wachen, um morgen früh als Erste am Bahnhof in Mexiko zu sein. Sie sind —
die Stimme bebt mir — sie sind Kofferträger, Schuhputzer, Fremdenführer,
sie tätowieren sich höchstens für den Photographen, und das Wort
Trinkgeld kennen sie auch schon.
In den Armenvierteln der Hauptstadt wohnen sie zusammen-
gepfercht, zinszahlend, schnapssaufend, hungrig und verkommen in
niedrigen, öden Armcleutkasernen. An ihnen vorüber fährt der Fremde
in Mexiko ein, es ist, als ob man ein großes, kostbares und in seiner
Art gewiß prächtiges Haus von der Gesindestiege her beträte. Aber
nach einem Dutzend dieser langen, geraden, entsetzlich nüchternen
Straßen steigen und wehen grüne Palmenwipfel über die niedrigen
Dächer, kleine Fontänen plätschern, ein Lustgärtlein grünt in der
Gassenöde, und phantastisch verschnörkelt dreht sich ein baroker
Kirchenturm kokett in den unsagbar blauen Himmel. Ein opern-
haft gestimmtes Glockenspiel läutet dem Fahrenden nach, langsam
wird es großstädtischer, und endlich tut sich Mexikos grünes Juwel
auf: die „Alameda". Das ist ein dem Schutze des Publikums empfoh-
lener Garten, oder eigentlich eine paradiesische Wildnis, von Poli-
zisten bewacht. Ein mit Porzellanschildchen ordentlich numeriertes
Dickicht. Ein Stadtpark und ein Dschungel. Wieder die fabelhaften
Eukalyptusbäume, Zedern und Palmen. Regenbogenfarbig bricht
sich der sanfte Strahl der Fontänen, brennende Farben einer tropi-
schen Flora übersticken mit Blumenwundern den grünsten Rasen,
den man je sah.
Und in diesem Paradies gibt es natürlich einen sehr bunten
Pavillon, in dem man ebenso natürlich Puccini spielt. Und Herrn
Lehar. Exotische Herrschaften von tiefgelb gebeiztem Angesicht
wiegen sich in den Hüften, Frauenblicke strahlen aus Mandelaugen,
unter seidenen Wimpern, denen ein Kohlestrich intensiv nachhilft.
Seidene Jupons rauschen, ohne daß man sagen könnte, daß es beson-
ders diskret geschähe. Hier ist eben überall ein Ton zu viel, eine
Farbennuance zu laut, ein Lachen zu üppig, als daß man sich mit
seinen europäisch disziplinierten Begriffen ohne Verwundern gleich
einstellen könnte. Und so geht man . wie eine graue Motte zwischen
den jungen Herren in Rohseide, fabelhaften Panamas und noch fabel-
hafteren, goldgeknauften Bambusstöckchen, schlägt sich in die weiß
und heliotropfarben blühenden Büsche — selbst die Natur tut den
Leuten den Gefallen und benimmt sich wie eine Theaterdekoration —
entflieht den Klängen der unsterblichen Veuve joyeuse und horcht
ins ernste Rauschen der Palmen, deren rostrote Säulenstämme einen
Himmel tragen, blauer als die ewige Bläue über Indiens Dschungeln.

Nicht ganz so vornehm, aber weitaus lustiger und abgöttisch geliebt von
den kleinen Leuten Mexikos ist die „Plaza“. Eine Plaza gibt es in jeder noch
so kleinen Stadt, noch im letzten Dorf trifft man sich hier, plaudert, politisiert,
läßt die Kinder sich balgen und den lieben Gott einen guten Mann sein. Auf
der Plaza Mexikos steht der schon erwähnte, rosenfarben angestrichene Palast,
die vergoldeten Kreuze der Kathedrale brennen über den Bäumen, und all die kost-
spielige Pracht ringsum stört den armen Teufel von Indianer durchaus nicht,
sich hier völlig zu Hause zu fühlen, stundenlang in der Sonne zu dösen, sein
Mittagessen mit den Genossen zu verzehren, gutmütig mit den Kindern zu raufen
und grinsend rund um den Musikpavillon zu hocken, den es natürlich auch hier
gibt. Die Parfüms von Alameda duften hier allerdings weniger eindringlich,
aber dafür gibt es Misthaufen, die nie im Jahr weggeräumt werden, und Orang en -
und Bananenschalen, Papierreste und Speisenüberbleibsel jeder Art.
Echteres Europa darf man in der Avenida San Francisco entdecken, wenn
man zu Mexikos oberen Vierhundert gehören sollte. Hier sind die Luxusgeschäfte
der Hauptstadt, ihre Modemagazine, ihre Banken, hier gleißen märchenhafte
Schätze auf den Samtpolstern der Juweliere, und in verschwenderischer Fülle
strahlt über dem allabendlichen Korso das Licht der elektrischen Bogenlampen,
deren elegant geschwungene Ständer man extra aus Paris kommen ließ. Hier
wäre es sogar unmöglich, sich in einem Loch des Pflasters den Fuß zu brechen,
wozu man fünfzig Schritte später ohne weiteres in der Lage ist. Hier hat der Reich-
tum den richtigen, größenwahnsinnigen Anstrich, auf den sich der brave Sohn
dieser Metropole gar nicht genug einbilden kann. Man sehe daraufhin das an
florentinische Paläste erinnernde Postgebäude an. Oder das Theater mit seinen
Musen, Genien, Kandelabern aus vergoldeter Bronze, seinen Marmorsäulen,
Goldkapitälen und Freskenkuppeln. Die hehre, die himmlische Göttin unter diesem
kostspieligen Dach ist allerdings ein zweifelhaftes Geschöpf, man spielt nie etwas
anderes als die abgetakelsten Revuen, blödsinnige Tingeltangeloperetten mit
Massenaufgeboten ausgezogener Weiber; wenn’s hoch kommt, versteigt man sich zu
einer Stagione, die von einem fünfklassigen italienischen Ensemble bestritten
wird und deren höchster Kunstgenuß die ehrliche Tosca ist.
Aber schließlich, es ist ja nichts verfehlter, als Europa unter den Palmen,
Goldkuppeln und Wellblechdächern Mexikos zu suchen. Hier, wo man sich nur
in einem fortwährenden Ausnahmezustand wohl fühlt, packe man seine euro-
päischen Pedanterien auf den tiefsten Grund seiner Koffer. Blau ist der Himmel,
wie man ihn noch nie sah, und blutrot prallen die Temperamente aufeinander.
Wem der infernalische Trubel dieser Auchmetropole auf die Nerven geht, die er
übrigens nicht gerade nach Mexiko mitnehmen sollte — der fahre in einem
rumpelnden Waggon der Veracruzbahn aus diesem Abenteuer in die von Mister
Bädecker ordnungsgemäß überstirnte und mit Fußnoten versehene Welt.

Theater in der Königgrätzer Straße: Szenenbild aus „Mr. Wu“,

Phot. Wiltingen, Berlin.
 
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