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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Seydlitz, Reinhard von: Nietzsche und die bildende Kunst, 1
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0036
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21

Nietzsche und die bildende Kunst
von R. von Seydlitz.

Unterm 26. Oktober 1886 schrieb Nietzsche, in
einem Briefe an mich, über sein Buch „Jenseits
von Gut und Böse“: es sei ein Buch „für die
Menschen umfänglichster Bildung, z. B. Jakob
Burckhardt und Hippolyte Taine, die ich einstweilen
für meine einzigen Leser halte.“
Wer von seinem Leser umfänglichste Bildung
verlangt, besitzt solche selbst in höherem Masse,
und so ist das Verhältnis richtig. Der Philosoph
muss z. B. von sich eine deutlich begrenzte Stellung
zur Kunst verlangen und sie erreichen. Zur Kunst,
— wie zu den Künsten. Denn solange die Musik
unter den Künsten als eine unter ihresgleichen
rangiert, anstatt die ihr gebührende Sonderstellung
einzunehmen, werden für den Denker auch die
übrigen „Einzelkünste“ — eben „Einzelkünste“
bleiben, und ihre gemeinsame Wurzel wird kaum
je ins Bereich der Untersuchungen kommen. Diese
geheimnisvolle Wurzel aber ist wieder nichts andres
als eben die Musik.
Es ist gut sich dies vorzuhalten, wenn man
beobachtet, wie Nietzsche überall da, wo er über
„Kunst“ sprechen zu wollen erklärt, immer das
Auge unwillkürlich auf die Musik richtet, jene
„Einzelkünste“ aber oft gar nicht erwähnt, oft nur
streift, selten direkt behandelt. Was er über Musik
geschrieben hat, füllte, zusammengestellt, mehrere
stattliche Bände; die bildenden Künste werden
explicite auf wenigen überall durch seine Werke
hin verstreuten Seiten abgethan. Der bildende
Künstler hätte ein scheinbares Recht, ihm deswegen
zu zürnen. Aber ich flocht soeben das Wort:
„explicite“ ein; implicite quellen alle Bände ,der
bisher erschienenen Schriften über von Dingen
„von und für“ Kunst sowie für und über Künstler.
Man muss freilich Nietzsche zu lesen verstehen;
das will gelernt sein, und wie die Sachen stehen,
ist es heute noch fast niemanden zu verübeln, wenn
er dazu die Zeit nicht findet. Ich habe 25 Jahre
dazu gebraucht ohne ausgelernt zu haben; andere
scheinen, um mit Schiller zu reden, in diesem
Falle ein kürzeres Gedärm zu besitzen.
Von dem erwähnten, Nietzsches Schriften fast
durchweg innewohnenden künstlerischen Geiste
sagt er selbst einmal (und, wohlgemerkt, hier ist
der grosse Hauptschlüssel zum Ganzen): „Meine
Gedanken sind Farben, meine Farben
Gesänge.“ (Werke, Bd. XII neu, S. 353, No. 657).Q

*) Im folgenden wird nach der Gr.-Quartausgabe citiert; die zu-
rückgezogenen Bände XI und XII von 1897 sind mit „alt“, die revidierten
Bände XI und XII von 1901 mit „neu“ bezeichnet.

Diese, ganz an R. Wagners Erda gemahnenden
Worte sollen hier über dem Eingang zum folgenden
stehen, als Mahnung und als Ermutigung für den
Künstler, wie als Warnung und als Richtschnur für
den Leser. Und im Geiste jener Worte allein
kann und soll das Folgende verstanden werden,
rein in der Sprache der Kunst, nicht in der des
Gelehrten. Denn wer urteilen will, muss sich dem
Objekt gegenüberstellen, und ihm sozusagen ent-
gegen gehen, sonst trifft er es nicht. Nun spricht
Nietzsche von oder über Kunst stets nur, wo und
wenn er gerade einmal nicht selbst Künstler ist,
sondern rein kritischer Philosoph; also im Zarathustra
nicht, weil er dort selbst Künstler (Dichter) ist.
Ebensowenig aber, wie die Kunst im Stande
ist an der Wissenschaft Kritik zu üben, wird es
dem kritischen Philosophen völlig gelingen können,
den Begriff der Kunst analytisch darzulegen. Es
giebt eine Kraniometrie, aber keine Psychometrie;
das Messer des Anatomen findet keine Seele, auch
das des Vivisektors nicht. Wie also könnte eine
ähnliche Methode zum Ziele führen in Bezug auf
die allerseelischeste Thätigkeit des Menschen, die
Kunst? Auch Nietzsche wird das gewusst haben,
und soweit mit jedem Denkenden übereinstimmen;
nur bleibt er, besonders in seinen späteren Schriften,
nicht bei solchem ignorabimus stehen, sondern es
überkommt ihn Misstrauen und Missachtung vor
der Kunst als vor etwas, das dem Lichte der Kritik
nicht Stand hält. Und da beginnt sein Unrecht.
Reichen die Methoden und Instrumente des Mathe-
matikers zu einer Messung nicht aus, so bezeichnet er
das unmessbare als solches, als incommensurabel, —
es bleibt ihm ein „undeclinirbares Neutrum“, —
aber er missdeutet diese Qualität nicht und bleibt
selbst „neutral“. Nietzsche aber gelang es nicht,
diesen Standpunkt streng festzuhalten; er, der so
ungeheure Wandlungen an sich selbst erlebte, wie
selten ein grosser Geist, musste notgedrungen jeder
Wahrheit, jedem Objekt der Kritik gegenüber den
Standpunkt wechseln — und damit auch die per-
spektivische Ansicht. Ist dieser Umstand nun zwar
für den Leser äusserst reizvoll, so birgt sich auch
darin grosse Gefahr: Widersprüche treiben da oft
ihren Teufelsspuk, ehe es gelingt sie aufzulösen;
und führt uns Nietzsche auch von allen Seiten um
die Kunst herum, — tief ins Innere dringen wir an
seiner Hand nicht. Er würde hierauf vielleicht
entgegnen, dass ihm daran auch nicht viel gelegen
habe: gut, aber dann sollte er der Kunst ihre Wege
lassen — und gar dem Künstler. Der Künstler,
 
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