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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Escherich, Mela: Kunst als Offenbarung der Natur, 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0379
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308

Kunst als Offenbarung der Natur.
Von M. Escherich.

Was nun die Naturwahrheit in der Kunst be-
trifft, so findet sie durch den Stil eine wesentliche
Erleichterung in der Darstellung. Der einmal ge-
schaffene Stil gibt der Phantasie Grenzen, Beruhigung.
Sie tritt der Natur gegenüber in ein sicheres Ver-
hältnis. Nie ist künstlerische Entwicklung schwerer
als in einer stillosen Zeit. Da ist jeder Meister
auf sich selbst angewiesen, auf die eigene innere
Harmonie seines Wesens, während er in stilfesten
Epochen von dem allgemeinen Rhythmus der Zeit
getragen wird. Daher finden wir in blühenden
Stilperioden stets eine Unmasse künstlerischer
Produktion, eine Steigerung geistigen Auslebens,
die in Erstaunen setzt; in stillosen Zeiten dagegen
nur vereinzelnte geniale Künster. Das sind dann eben
solche, die einen übermässigen Reichtum in sich
tragen, der sich nicht ersticken lässt, Naturen wie
Schwind, Richter oder Feuerbach. Kleinere Talente
hingegen kommen in solchen Zeiten nicht zum
Ausdruck. Sie sind wie schwache Pflanzen, die
in armen Jahrgängen nicht blühen.
Stil weckt, entwickelt, reift. Er ist die Einheit,
die stark macht.
Im Gegensatz zu der geschlossenen Auffassung
innerhalb eines Stiles steht der Naturalismus, jener
gefährliche Schmarotzer, der sich stets dadurch
auszeichnet, dass er nicht weiss, was er will. Er
ist der Anarchist in der Kunst, das verneinende
Prinzip in der menschlichen Entwicklung.
Naturalismus ist Affenkunst. „Die Blüte der
Seele“ will davon nichts wissen. Und alles Spiel
mit den Formen der Natur ist für sie alles andere
eher als Nachahmung. Kunstform bedeutet nichts
andres als menschliche Naturform.
Betrachten wir eine griechische oder römische
Vase! Da ist doch nichts von Nachahmerei zu
entdecken! Und wir kommen bei ihrem Anblick
auf keine andere Idee, als dass Menschengeist sie
erfunden, Menschenhand sie geformt hat. Griechen
und Römer haben ihre Rolle ausgespielt und wir
mit dem fremden Blick einer anderen Kultur freuen
uns noch, immer an der wunderbaren edlen Form
der antiken Kunstwerke. Betrachten wir nun im
Gegensatz dazu ein Bierseidel aus einem Baum-
stamm geschnitzt, wie man solche in modernen
Bazaren vielfach findet, eine Arbeit, an der die
Natur mehr getan hat als Menschengeist und Hand,
so mutet uns das wohl als ein allerliebster Gegenstand
an, aber Jahrtausende werden wir uns nicht daran
freuen. Und schon heute laben wir unsre Augen
nicht an dem zu einem ganz liebenswürdigen Bier-

(Schluss.)
seidel verarbeiteten Baumstamm, sondern blicken
etwas flüchtig darüber hinweg, während wir uns
an der Form der antiken Vase nicht satt schauen
können.
Uns, da wir einmal Menschen sind, gefällt eben
unser Menschenwerk. Alles übrige geht uns auch
im Grunde nichts an. Ich bin überzeugt, hätte die
Biene ein so ausgebildetes ästhetisches Bewusst-
sein, dass sie sich darüber ausdrücken könnte, sie
würde bestimmt von der Bienenwabe als der herr-
lichsten Kunstform sprechen.
Je eigentümlicher ein Stil ist, je mehr er sich
von der fremden Natur entfernt und nur die eigene
darstellt, je bedeutender ist er. Wie wenig er der
fremden — der uns umgebenden Natur — bedarf,
beweist, dass die edelsten, menschentümlichsten
Stilformen, die Antike, die Gotik, die Renaissance
in Ländern entstanden sind, in denen die Natur
schön und reich ist. Wäre es Sache der Kunst,
Natur nachzuäffen, stünde es damit anders. Dann
hätten die Griechen und Römer nie solche Vasen
geformt, nie solche Tempel gebaut, wie sie uns
heute als das erhabendste und schönste erscheinen,
sondern sie hätten naturalistische Kunstübung be-
trieben, hätten sich vielleicht früh schon darauf ver-
legt, Früchte und Käse in Seife täuschend nachzu-
ahmen. Wäre aber gar, wie manche meinen, Kunst
ein Surrogat, ein Ersatz für die Natur, dann stünde
es wiederum anders, dann müsste in den an land-
schaftlichen Reizen ärmsten Gegenden die Kunst
ihre wahre Heimat haben. Der Mangel an Schön-
heit in der umgebenden Natur müsste die Menschen
Zuflucht suchend der Kunst in die Arme treiben.
Dann könnte Italien und Hellas künstlerisch sicher
nie eine Rolle gespielt haben, dagegen würde die
Kunst auf den Eisenbahnstrecken Berlin-Hamburg
oder Berlin-Dresden von Station zu Station ihre
herrlichsten Siege feiern.
Das ist aber nicht der Fall. Kunst bedarf in-
sofern einer schönen üppigen Natur, als der wirt-
schaftliche Wohlstand eines Volkes damit zusammen-
hängt. Wo Armut, verkümmert, abgesehen von
der Not des einzelnen Künstlers, die Aesthetik. Es
ist weit weniger der Mangel an Mäcenen, als der
Mangel an Verständnis in den Kreisen des Volkes,
worunter die Kunst leidet. Der Künstler hungert,
wenn sein Volk keinen Hunger nach der Kunst
empfindet. Kunsthunger kommt aber erst mit einem
gewissen Wohlstand, erst wenn der Hunger nach
wirklichem Brot gestillt ist.
 
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