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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Escherich, Mela: Kunst als Offenbarung der Natur, 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0380

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309

Harmonie und Wahrheit sind die Ziele
aller Kunst, beides Dinge, die nicht aus der Nach-
empfindung, sondern einzig aus der Reife der
eignen Natur heraus gewonnen werden können.
Wenn wir die Kunsterfahrung der vielzitierten
Renaissance, abgesehen von den lobhudelnden
Phrasen der Schriftsteller jener Zeit, auf ihre end-
giltigen Ergebnisse prüfen, so sehen wir, dass sie
schliesslich dieselben sind, wie die unsrer heutigen
Aesthetik; Harmonie der Erscheinung und Wahr-
heit im Sinne innerlichen Erlebnisses. Diese Grund-
sätze bleiben immer und überall dieselben, gleich-
viel wo wir die Probe darauf machen, ob bei Giotto
oder Michelangelo, Dürer oder Rembrandt, Thoma,
Klinger oder dem japanischen Franz Hals Hokusai.
Das Gesetz bleibt das gleiche; nur die Auslegung
ist eine verschiedene. Die eine Zeit drängt zum
Realismus, die andre zum Idealismus; einmal sucht
die Menschheit ihr Bekenntnis in formaler Gestaltung,
ein andermal grübelt sie über Licht- und Tonwerten.
Bald schildert sie die eigene Individualität in mensch-
licher Erscheinung, bald im Wesen der Landschaft,
bald in ornamentalen Fugen oder in architektonischen
Bildungen. Aber immer schwebt ihr das Zusammen-
fassen der quellenden Empfindungen unter eine
gebundene Einheit, sei es nun Form, Farbe oder
Licht, als Ideal künstlerischen Ausdruckes vor.
Die Harmonie — — —.
Und die andre grundlegende Tendenz ist das
Streben nach Wahrheit. Nicht Wahrheit im Sinne der
Nachbildung, sondern im Sinne tiefster schöpferischer
Kraft. Wahrheit in der Kunst heisst nicht: ich sage,
was die andern sagen oder ich sage, was ich sehe,
sondern: ich glaube, ich bekenne.
Kein Künstler kümmert sich um das Glaubens-
bekenntnis des andern. Seine Kunst wird ihm von
seiner eignen Natur diktiert. Er kann gar nicht
dagegen, selbst wenn er wollte. Die Stimme der
Menschheit ist es, die in ihm spricht, die ihn zwingt,
zu bekennen, zu beichten, tausendfachen Martertod
zu erleiden für die Sünden der Welt. Und dass
in jeder Natur die Natur sich wieder anders äussert,
das ist eben ihre Mannigfaltigkeit.
Betrachten wir die Erscheinungen der Natur 1
Jedes Ding anders! Verschieden Baum vom Baum,
Blüte von Blüte, Staubfaden von Staubfaden.
Welch ein Reichtum!
Dazwischen aber läuft das Gesetz. Ein Gesetz,
dessen Regeln wir nicht begreifen, dessen Dasein
wir nur ahnen können. Das Gesetz von der Wieder-
holung aller Dinge. Wir sehen Insekten, deren
Farbe dem Laub oder der Rinde der Bäume gleicht,
Stämme, deren Maser Luftkringeln ähnelt, Berge
mit menschlichen Profilen, Gletscher, deren Glitzern
an das Wogen des Meeres erinnert. Und welche
wunderbare Gestaltenwelt erwächst in den Gebilden
der Wolken!
Derselben Mannigfaltigkeit, aber auch dem
selben Gesetz der Wiederholung ist auch die Kunst
unterworfen. Und das allein schon stempelt sie
zu einem Element der Natur. Die jonische
Volute ist so wenig eine Nachahmung der Schnecke
als das Profil Napoleons am Loreleifelsen eine

Nachahmung des Menschen Napoleon oder umge-
kehrt. Beides sind freie Wiederholungen innerhalb
eines herrschenden Formgesetzes.
Dies erweist sich zunächst daraus, dass eine
wirkliche Nachahmung genauer und namentlich in
gewissen Anlehnungen ängstlicher sein müsste,
während dies bei Naturwiederholungen nie der Fall
ist. Da ist weder eine Spur von genauer Kopie,
noch von ängstlichem Nachäffen in Einzelheiten.
So frei und sicher tritt die Form da und dort auf,
dass man, wollte man Nachahmung annehmen,
ewig im Zweifel bleiben müsste, welches denn nun
die Urform und welches das Nachbild sei.
Bei wirklichen Kopien wird dieser Zweifel stets
bald gehoben. Wie jämmerlich ist eine gemachte
Blume gegen einer frischen, ein gemachter Schmetter-
ling gegen einem wirklichen! Aber ein Kunstornament
ist so ursprünglich wie irgend eine Naturform.
Im gotischen Masswerk, abgesehen von Stellen
wo fremde Naturformen naturalistisch nachgeahmt
sind, also da, wo das Stilornament am reinsten
dominiert, äussert sich eine Ureigentümlichkeit
der Form, wie sie in den Dingen der uns um-
gebenden Natur nicht eigentümlicher auftreten kann.
Wir besinnen uns vergeblich, wo wir die gotischen
Formen in der Natur gefunden haben und wir ent-
decken kein Analogon. Aber die Form ist einmal
da und es liegt nicht in ihrem Wesen, sich nur
einmal zu materialisieren. Suchen wir also! Der
Volksmund spricht vom Waldesdom. Dabei kann
nur der gotische Dom vergleichsweise gemeint
sein. Das ihm eigentümliche Strebesystem erinnert
in Wahrheit an den Wald. Die Pfeiler gleichen
schlanken Bäumen; das oft mit Sternen bemalte
Gewölbe mit den sich kreuzenden Rippen und
starken Gurten dem blauen Sternenhimmel, der
durch das Gewirr sich verschlingenden Geästes
schimmert; die zierlichen Fialen wiederum den
wundersamen Bildungen in Tropfsteinhöhlen.
Im sogenannten Flamboyantstil der französi-
schen Spätgotik wies das Ornament zu zuckenden
Flammen. Es ist ein Geflacker und ein Gezüngel,
das uns unwillkürlich an die Formen auflohenden
Feuers gemahnt.
Die Renaissance liebt Wolken-, auch Muschel-
bildungen. Gegen das Barock zu kräuseln sich
alle Formen wie brandendes Wasser. Die antike
Volute und das knittrige Gefältel der Gotik ver-
zieht und verdehnt sich zu einem Gewoge, das
rollenden Wellen gleicht. Höher und höher scheint
mit dem zunehmenden Barock dieses erregte Meer
zu steigen, erst im zarteren Rococo in leichtem
Gerinnsel sich verlierend. Dort ist es die ge-
wundene Säule, die wiederum das Flammenmotiv
aufnimmt.
Im neuen Stile herrscht der Krimpei, der seine
Paralleleerscheinung in den Bewegungsformen der
Gase besitzt. Die modernen Linienmotive gleichen
vielfach den seltsamen Windungen ziehenden
Rauches, die ihren Ursprung in dem Kampf der
Gase gegeneinander und den daraus entstehenden
Stauungen und Ausweichungen haben.
So liessen sich durch alle Stile hindurch Natur-
beobachtungen machen. Unzählige Fachausdrücke
 
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