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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Schmidkunz, Hans: Voraussetzungslose Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0120

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96

Voraussetzungslose Kunst.
Von Hans Schmidkunz (Berlin-Halensee).

In Angelegenheiten der Wissenschaft ist von
Zeit zu Zeit immer wieder die Rede von der so-
genannten freien, voraussetzungslosen Forschung;
und der Kampf der Freunde einer solchen gegen
Anhänger einer an Voraussetzungen gebundenen
Forschung gehört zu den ständigen Sensationen.
„Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei“: diese
vielgenannte Bestimmung konstitutioneller Staaten
schützt den Gelehrten vor den sonstigen Gesetzen,
wenn ihn seine Forschung zu Ergebnissen führt,
die den herrschenden Gewalten zuwider sind; sie
gestattet ihm, in der wissenschaftlichen Schrift-
stellerei und im Wissenschaftsunterricht (also in
gelehrten Büchern und auf dem Katheder) Dinge
zu behandeln, die in einer anderen Behandlung ver-
pönt sind; sie schafft inmitten des ganzen Systems
von Verboten und Beschränkungen, das unser
öffentliches und zum Teil auch privates Leben
durchzieht, eine Freistätte; sie gestaltet sich im
Unterrichtswesen der Wissenschaften zur „Lehr-
freiheit“, und vereinigt gegen jeden Angriff auf diese
die Freunde der Wissenschaft und der modernen
Selbständigkeit des geistigen Lebens in eine „Armee
des Fortschrittes“ — oder wie es eben heisst.
Obwohl nun (vielleicht auch weil) die Kunst
dem praktischen Leben und den Sympathien des
„gemeinen Mannes“ näher steht als die Wissen-
schaft, ist trotzdem die Kunst nicht ebenso geschützt
wie diese und weit weniger als diese von Streitig-
keiten umtobt, die sich um Forschungs- und Lehr-
freiheit und um Analogien dazu drehen. Wir sind
anscheinend noch nirgends mit einer verfassungs-
mässigen Bestimmung beglückt, die etwa lauten
würde : „Die Kunst und ihre Ausübung ist frei“. Die
Unbeschränktheit, mit der ein Gelehrter und ein
wissenschaftlicher Lehrer oder Schriftsteller heikle
Dinge — zumal solche politischer und solche
sexueller Natur — behandeln und darstellen darf,
weicht zahlreichen Schranken, sobald man sie über-
tragen möchte auf das Schaffen und insbesondere
auf das Publizieren künstlerischer Leistungen. Und
von den weitgehenden, öffentlichen Debatten, wie
sie über freie, voraussetzungslose Wissenschaft ge-
führt werden, von den Klärungen der Begriffe, wie
sie auf diesem Gebiete wenigstens versucht werden,
ist dort wenig zu finden, wo es sich um die Schwester
der Wissenschaft, um die Kunst, handelt. Von
diesem Wenigen aber ist, wie wohl alle Beteiligten
wissen oder fühlen, das Meiste so geringwertig,
dass es einen, gelinde gesagt, anwidern kann.

Der heftige und ausgedehnte Streit über Un-
abhängigkeit der Wissenschaft und der thatsächliche
Mangel eines gleichen Schutzes für die Kunst —
noch mehr aber das Ausbleiben eines Verlangens
nach Gleichberechtigung der Kunst mit der Wissen-
schaft in diesen Dingen : das alles lässt vermuten,
die Sache mit der Freiheit von Wissenschaft und
Kunst sei doch nicht so einfach. Es wird also gut
sein, diese Frage zunächst für beide Gebiete und
dann für das der Kunst allein näher zu erörtern.
Kenner des Streites um die Freiheit der Wissen-
schaft werden wahrscheinlich leicht bemerken, dass
der Verfasser manche Forderung seiner Ansichten
einigem zu verdanken hat, was von — katholischer
Seite auf diesem Gebiete geleistet worden ist; vor
allem erscheint ihm G. v. Hertling’s „Prinzip des
Katholizismus und die Wissenschaft“ (Freiburg i. B.
1899) als einer der beachtenswertesten Beiträge zu
den schwebenden Fragen.
Vor allem muss zum Leidwesen von orthodoxen
Dogmatikern eines Liberalismus festgestellt werden :
Freiheit und Voraussetzungslosigkeit von Wissen-
schaft und Kunst, im Sinne eines willkürlichen
Beliebens, ist ein Unding. Kaum etwas, bei dem
in diesem Sinne eine Unabhängigkeit so sicher
zu Minderwertigem führt, wie Wissenschaft und
Kunst. Ein Forscher, der behauptet, was ihm be-
liebt, und der seine Themen und Behandlungsweisen
nach abgerissenen Einfällen wählt; ein Künstler,
der zu schaffen versucht, wie es ihm beikommt,
und der nach den nächstbesten Themen und Auf-
fassungen greift — beide sind, um es in aller Kürze
zu sagen, Dilettanten, aber nicht im günstigen Sinne
dieses Wortes. Von derartiger Freiheit ist die
Wissenschaft, wie auch die Kunst, so weit entfernt,
dass vielmehr die Notwendigkeit beiden erst
ihren Charakter giebt. Gerade in dem Masse, als
ein Gelehrter und seine Forschung und Systematik,
ein Künstler und seine Studien und Darstellungen
alles Belieben individueller, zeitlicher, lokaler Art
den ehernen Geboten wissenschaftlicher und künst-
lerischer Forderungen unterordnen, werden sie und
ihre Werke gross, echt und vorbildlich („klassisch“).
Der Eindruck eines „so muss es sein“ ist das
Charakteristischeste für jedes wirklich wissenschaft-
liche und künstlerische Werk.
Man wird sich vielleicht verwundern, dass wir
hier gegen das Individuelle, Zeitliche und Lokale
in der Kunst Stellung zu nehmen scheinen, während
doch ein Künstler und sein Werk gerade in der
 
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