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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Schmidkunz, Hans: Voraussetzungslose Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0121

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Individualität und dem zeitlichen und heimatlichen
Boden der beiden wurzeln sollen. Wurzeln —
darin liegt es eben. Das „Wurzeln“ ist nur eine
andere Bezeichnungsweise für einen innigen Kausal-
zusammenhang. Vor allem was die Individualität
betrifft: ihre Ausprägung im künstlerischen Werke
wird in dem Sinne gewünscht, dass dieses ebenso
eine eigentümliche Gestaltung der Individualität
voraussetzt, wie bei einem Menschen etwa seine
Physiognomie gänzlich abhängig ist von seinem
gesamten leiblichen und seelischen Bau. Nun aber
noch mehr: es genügt nicht, dass das Kunstwerk
in diesem notwendigen Zusammenhang stehe mit
der Individualität; vielmehr muss in dieser sehr viel
— man kann gut sagen: eine ganze Welt — vor-
ausgesetzt werden. Eine x-beliebige Individualität
oder Persönlichkeit (die Verschiedenheit dieser
beiden Begriffe kommt hier nicht in Betracht)
würde noch kein Kunstwerk bestimmen können; viel-
mehr vermag dies nur eine nach Anlage, Schulung,
Ausbildung und steten Studien künstlerische In-
dividualität. All dies gehört zu den Voraussetzungen
der Kunst. Und zwar ist es teils etwas allgemein
giltiges, das sich also ebenso in anderen künst-
lerischen Individualitäten finden muss, teils etwas
nur für das eine Individuum giltiges: eine Ver-
einigung der und der Einflüsse, die nun hinwider
nur die und die Aeusserung begründet.
Leitet uns in dieser Weise wahrhaftes Künstlertum
zu seinen Voraussetzungen zurück, so verhält es
sich mit dem Kunsturteil im wesentlichen gleich.
Wie ein willkürliches Kunstwerk im Grunde keines
ist, so ist auch ein willkürliches Kunsturteil im
Grunde keines. Entweder es setzt sich über jene
notwendigen Zusammenhänge hinweg, beachtet
z. B. nicht, welche Schaffensweise aus einer be-
stimmten Künstlerindividualität folgt, dann wird es
seinem Objekt einfach nicht gerecht und führt zu
Unmöglichem; oder es ordnet sich jenen Zusammen-
hängen unter (was freilich noch nicht auch Zu-
stimmung zu jedem Objekte der Kiitik bedeutet)
und tritt dadurch in Abhängigkeit von Voraus-
setzungen. Diese Abhängigkeit gestaltet sich nun
so, dass sie in ebenso einzelnen Urteilenden auftritt,
wie die analoge Abhängigkeit der Kunst in einzelnen
Schaffenden; und wie nun diese Abhängigkeit auf
bestimmte Bildung u. s. w. angewiesen ist, so ist
es auch jene. Kurz: über Kunst zu urteilen ist
nicht jedermann, sondern nur eben der Befugte
berechtigt. Auch das Kunsturteil hat seine Vor-
aussetzungen, wie die Kunst die ihrigen hat. Da-
durch erledigen sich zahlreiche Streitfälle von selber.
Die landläufigen, einander befehdenden Aeusser-
ungen über Pflichten der Kunst nach bestimmten
Richtungen, über Freiheit oder Gebundenheit der
Kunst u. s. w. haben einfach keinen Anspruch,
gehört — nicht einmal den, ad acta gelegt zu
werden. Dass sie eine thatsächliche Macht aus-
üben, ist freilich eine traurige Thatsache; was sich
gegen diese thun lässt, muss eben von den der
Kunst dienenden Schaffenden und Nachschaffenden
und Urteilenden gethan werden.
Wir erwähnten neben dem Individuellen in der
Kunst auch das Zeitliche und Oertliche. Um dieses

zu würdigen, sei uns ein kleiner Umweg erlaubt.
Wenn wir zwar eine Definition vermeiden, aber
doch eine Verständigung geben wollen, so dürfen wir
folgendes sagen: Kunst ist Ausdruck. Aber nicht jeder
Ausdruck ist Kunst, beispielsweise nicht die gewöhn-
liche Wort- und Geberdensprache aller Menschen.
Die Kunst fängt erst dort an, wo dieser Ausdruck
in den Formen vor sich geht, die wir eben künst-
lerische nennen. Zum Kennzeichnenden für diese
Eigenart gehören das hervorragend aesthetisch Wohl-
gefällige („Schönheit“ im engeren Sinne), die höchst-
mögliche Anschaulichkeit, die vollendete Umsetzung
dessen, was veranschaulicht und überhaupt aus-
gedrückt werden soll, in jene Formensprache. Aus-
druck in einer anschaulich gestaltenden Formen-
sprache: das ist es, was irgend eine Erscheinung
zu einer künstlerischen macht. Erst damit beginnt
Kunst. Was in einer solchen Sprache ausgesprochen
wird, ist für diese Aussprache, wie wir noch sehen
werden, zwar im einzelnen nicht gleichgiltig und
gehört insofern zu den Voraussetzungen der Kunst.
Allein es ist noch nicht diese selbst. Toleranz
oder Intoleranz, Heiliger oder Verbrecher, Rose
oder Dünger, Liebe oder Hass, König oder Fuhr-
mann, Erhabenes oder Niedriges — an sich ist
dies alles noch nicht Kunst; erst seine eigenartige
Aussprache ist Kunst. Diese Aussprache steht nun
zwar in einer Abhängigkeit von dem, was ausge-
sprochen wird. Doch diese Abhängigkeit besteht
nicht darin, dass der eine von jenen Gegensätzen
künstlerisch wertvoller wäre als der andere. Das
sind eben andere als künstlerische Gegensätze,
wie solche z. B. zwischen dem Werk eines An-
fängers und dem eines Meisters, oder zwischen dem
eines Handwerkers und dem eines stilbildenden
Schöpfers bestehen; das sind vielmehr sociale,
ethische und andere Gegensätze. In dieser Be-
ziehung ist die Kunst unbedingt frei und
voraussetzungslos. Jede Zumutung von etwas
anderem muss mit aller Schärfe zurückgewiesen
werden. Thatsächlich hat die Kunst Tag für Tag
mit derartigen Zumutungen zu ringen. Sie mögen
noch so wohlgemeinten socialen, ethischen und
anderen Interessen entspringen; künstlerischen oder
kunstverständigen Interessen entspringen sie nicht.
Und weil das rechte Kunsturteil von Voraussetz-
ungen abhängt, diese Voraussetzungen jedoch bei
den meisten Urteilenden fehlen, so haben wir eben
tagtäglich mit der im schlimmsten Sinne des Wortes
freien und voraussetzungslosen Meinung zu thun,
welche die „Elendsmalerei“ niedriger schätzt als
die „Hohheits“-Malerei, und wie diese Aeusserungen
eben lauten.
„Aber die Kunst soll doch erheben, nicht
herabziehen?“ Gewiss soll sie es, doch künstlerisch,
nicht sozial oder ethisch u. s. w. Ihre Erhebung
ist die Ablenkung von der Welt der Wirklichkeit,
in der Edles und Unedles geschieht, in die Welt
einer Anschauung, in der Edles und Unedles nicht
wirklich, sondern nur im Abbilde geschieht, in der
nichts richtig oder unrichtig dem gewöhnlichen
Sinne nach, sondern alles nur vollkommen oder
unvollkommen dem Sinne der künstlerischen Formen-
sprache nach ist. Man sehe, wie bei Wilhelm Busch
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