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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Schmidkunz, Hans: Voraussetzungslose Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0122

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98

die grausigsten Dinge so ganz und gar „in den
Ausdruck aufgelöst“ sind, dass hier sogar dem
fanatischesten Kunstfeind schwerlich der Gedanke
an „Verwerfliches“ kommt. Ob dieser Künstler
Grausiges oder Liebliches darstellt, ist für seine
Künstlerschaft nicht im geringsten Voraussetzung.
Dass er es eben mit der Meisterschaft eines Busch
darstellt, ist die Voraussetzung seines Erfolges.
„Aber die Kunst soll doch nicht der Unsittlich-
keit Vorschub leisten!“ Das kann sie gar nicht;
wollte sie das, so würde sie sofort ihre ganze
Hilflosigkeit verraten. Das kann sie so wenig wie
die Wissenschaft. Das kann sie so wenig, wie man
etwa in der englischen Sprache spanisch reden
kann. „Aber man sehe doch die und die Nuditäts-
gemälde, die und die frivolen Operetten!“ Soweit
in derlei etwas Unsittliches steckt, fehlt es einfach
an der Kunst; dann hat der Kunstrichter sein
Votum abzugeben, dass an den Voraussetzungen
der Kunst das und das fehlt, und hat im übrigen
das Wort dem Kollegen von der Moralkritik zu
überlassen.
Wir sagten jedoch, dass das, was in künst-
lerischer Formensprache ausgestaltet werden soll,
für diese Sprache nicht gleichgiltig sein kann. Was
das bedeutet, sieht man am besten an Anfängern,
die sich „im Thema vergreifen“. Das heisst: es
gehört Künstlerschaft mit all ihren Voraussetzungen
dazu, ein Thema richtig zu wählen und anzufassen.
Darin ist die Kunst oder genauer der Künstler eben
nicht frei. Er ist es auch insoferne nicht, als das
Thema, der Inhalt, oder wie man’s nennen will,
seine Wirkung auf die Behandlungsweise ausübt,
ja selbst an der Stilbildung mitbeteiligt ist. Sogar
der ganz materielle Bedarf wirkt in dieser Weise
mit: Architektur und Kunstgewerbe bezeugen es.
Die Sache kommt schliesslich darauf hinaus, dass
die Kunst Ausdruck ist. Was sie ausdrücken will,
das ist hinwider nicht bloss von der Individualität
des Künstlers bedingt, sondern auch von Zeit und
Ort. So wären wir denn endlich auf diese zurück-
gekommen. Und nun stehen wir vor der bekannten
Forderung an die Kunst, ein Spiegel ihrer Zeit zu
sein, in einer Heimat zu wurzeln u. s. w. In der
That ist mit dieser Forderung abermals eine Voraus-
setzung für die Kunst aufgestellt. Vor allem gilt
es, nicht hinter der Höhe des künstlerischen
Schaffens zurück zu bleiben, die dann und dort
erreicht ist. Dann aber — und nun kommt der
vielleicht heikelste Punkt in der Abhängigkeit der
Kunst — dann aber gilt es, gerade dem Ausdruck
zu geben, was die Zeit, das Volk, den Geist der
Mehrheit oder einer nach Gehör ringenden Minder-
heit, zumal der Jugend, bewegt. Thut die Kunst
das nicht, ist sie in dieser Hinsicht „freischwebend“,
nicht „basiert“, so verliert sie sich rasch. Man
erkennt dies schon an einer Einzelheit: an der
Berücksichtigung oder aber der Vernachlässigung
des zeitgenössischen Kostüms. Und über den Sinn
des Wortes „Stil“ ist in dieser Beziehung schon
so viel gesagt worden, dass wir bloss darauf ver-
weisen brauchen.
Aber nun noch mehr! In jeder entwickelteren
Epoche, Volksgemeinschaft u. s. w. gibt es, zunächst

abgesehen von aller Kunst, sehr verschiedenartige
Interessen, die miteinander ringen und eine gewisse
Eifersucht gegeneinander entfalten. Jedes dieser
Interessen möchte dem anderen etwas abgewinnen,
vorerst im sozialen, ethischen Leben u. s. w., dann
aber auch im künstlerischen. Die Religion ringt
nach Ausdruck und die Weltlichkeit thut es eben-
falls; die Freude am bekleideten und die am nackten
Körper thut es; die Vorliebe für städtische Kultur
und die für ungebrochene Natur kämpfen mit-
einander; auf der einen Seite die Ansprüche der
Machthaber, auf der anderen die der Unterdrückten;
hie Sinnliches, hie Unsinnlichkeit! Alles an sich
künstlerisch indifferent. Allein es bewirkt, dass in
der Kunst selber stets auch Momente leben, die
unabhängig sind vom Spezifisch - Künstlerischen.
Ebenso in der Wissenschaft: sie braucht sich in
ihrem reinen Wahrheitsstreben durch nichts irre
machen lassen; nur dass unabhängig davon in ihr
Raum bleibt für anderes. Themastellung, Verteilung
des Mehr und des Minder der Arbeit auf ver-
schiedene Gebietsteile, Ausfüllung dessen, was
noch nicht durch strenge Wissenschaft erledigt
werden kann, durch Intuitionen, Anregungen u. s. w.
u. s. w. Um derartiges drehen sich die Kämpfe
zwischen ultramontaner und liberaler Ansicht der
Wissenschaft, und um analoges drehen sich solche
Kämpfe bezüglich der Kunst. Nur dass im Tages-
streit dieser reinliche Standpunkt verwischt wird
und dass man um Kunst und Wissenschaft streitet,
wo anderes in Frage steht.
Ein so würdiger Vertreter des ultramontanen
Standpunktes in der Wissenschaft wie G. v. Hertling
spricht („Prinzip des Klassizismus“, S. 89) von „dem
kategorischen Imperativ aller wissenschaftlichen
Forschung“, „welcher vorschreibt, das ehrliche
Streben nach Erkenntnis der Wahrheit durch keine
Triebfedern anderer Art beeinträchtigen zu lassen“.
Dieser Forderung muss unseres Erachtens die nach
einem „kategorischen Imperativ alles künstlerischen
Vorstellens“ zur Seite treten, „welcher vorschreibt,
das ehrliche Streben nach künstlerischem Ausdruck
durch keine Triebfeder anderer Art beeinträchtigen
zu lassen“. Und in gleicher Weise können wir die
Analogie finden zu einem anderen Ausspruch jenes
Autors (S. 80): „Wer gelernt hat, grossen und
schwierigen Problemen scharf ins Auge zu sehen,
wer sich der Mittel und zugleich der Grenzen
unserer Erkenntnis bewusst ist, wer da weiss, wie
jede Abkehr von den strengen Regeln der Forschung,
jede Beeinflussung durch Motive, welche ausserhalb
des uneigennützigen Strebens nach Wahrheit liegen,
unfehlbar auf Irrwege führen, der wird auch gewiss
am besten geeignet sein, die „Geister zu unter-
scheiden“ . und blosse Phantasmagorien oder auch
Ausgeburten einer abergläubischen Sinnesart als
solche zu erkennen und rechtzeitig zurück zu
weisen.“
„Aber die erhabenen Schöpfungen der religiösen
Kunst?“ Sie sind gewiss nicht bloss durch hohe
Technik zustande gekommen, sondern auch durch
gläubigen Sinn; dieser hat jene und jene hat diesen
gefördert. Wir haben sogar das Recht, einer bloss
artistisch gesinnten Kunst der Darstellung religiöser
 
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