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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Schmidkunz, Hans: Voraussetzungslose Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0123

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Inhalte den Ehrennahmen einer religiösen Kunst
zu verweigern, in diesem Sinne einen Fritz von
Uhde hinter einen Wilhelm Steinhausen zurückzu-
stellen und auch zu verlangen, dass selbst auf
Kunstschulen religiöse Kunststudien denen ver-
bleiben sollen, die religiös fühlen. Nur dass neben
der Religion noch andere Interessen nach Aus-
druck ringen: Bürgerstolz in einem Rathausbau,
französische Gloire in Bauten und Bildern des
Barocko u. s. w., Naturfreude in Landschaften und
Aktbildern. Gerade weil Kunst eben Kunst ist,
eine eigene, mit keiner anderen eines Konfliktes
fähigen Welt, gerade deswegen liegt es sozusagen
in der Vernunft der Sache, dass der religiöse
Künstler sich in seinen Werken bis zur höchsten
religiösen und der weltliche Künstler sich in den
seinen bis zur höchsten weltlichen Exstase aus-
spricht — sofern ein solcher Gegensatz überhaupt
noch einen Sinn hat. Den einen oder den anderen
in dieser bis zum höchstmöglichen gehenden Aus-
sprache zu hemmen: das ist jene Unfreiheit, die
von der Kunst mit aller Macht ferngehalten werden
muss.
Hier sind wir zu der Forderung einer freien,
voraussetzungslosen Kunst gelangt. Nicht die
Notwendigkeit oder speziell die Gesetzmässigkeit,
sondern die Satzung ist es, von der die Kunst
frei bleiben muss. Die Satzung in jeder ihrer
Formen: in der einer Polizeiverordnung, in der
einer gesellschaftlichen Konvention, in der eines
Parlamentsbeschlusses über Ankäufe von Kunst-
werken u. s. w. — kann der Tod der Kunst werden.
Die strenge Gesetzmässigkeit ist ihr höchstes Leben.
Sie ist unbedingt frei und voraussetzungslos in
ihrem Ausdruckswesen gegenüber Forderungen,
die nicht in diesem selbst liegen; und sie ist in
diesem durchaus unfrei und von Voraussetzungen
abhängig gegenüber Forderungen, die in ihm
selbst liegen. Sie ist in allem anderen, was
sonst noch zu ihr gehört, abhängig von
solchen Momenten, denen sie eben Ausdruck
geben soll.

In dem Sinne, wie die Wissenschaft „frei“ ist,
in eben diesem muss es auch die Kunst sein. Eine
derartige grundgesetzliche Bestimmung würde ihr
dringend zu gönnen sein. Sie muss unangetastet
bleiben von jeder Beschränkung der Inhalte u. s. w.,
denen sie Ausdruck geben kann, und die sie nach
eigenstem Bedarf annimmt oder verwirft. Sie muss
Bewegungsfreiheit haben, neue Gebiete aufzu-
schliessen; zu ihren besten Fortschritten gehören
die dadurch errungenen. Sie muss verschont
bleiben von Urteilen, die ihre Freiheiten und Vor-
aussetzungen nicht würdigen und denen selber die
nötigen Freiheiten und Voraussetzungen fehlen.
Und nun die Frage, wie es dazu bringen!
Unseres Erachtens kommen alle, die Kunst äusserlich
beschränkenden Urteile daher, dass die Urteilenden
glauben, über Künstlerisches zu urteilen, während
sie in Wirklichkeit über Sociales, Ethisches u. s. w.
urteilen. Lasst jemanden, der ferne von der Wissen-
schaft steht, über diese urteilen: er wird manches
vielleicht recht wertvolle zu sagen wissen, doch
gerade das spezifisch wissenschaftliche verfehlen,
weil ihm eben die Voraussetzungen fehlen. Des
Kunsturteils erste Voraussetzung aber ist das, was
wir im Gegensatz zu dem inhaltlichen Interesse der
Menge kurz das „Formgefühl“ nennen möchten,
das Fühlen und Verstehen dessen, was künstlerische
Sprache ist. In dem Masse, als ein Urteilender
dies besitzt, tritt ihm das nicht spezifisch Künstler-
ische im Kunstwerk hinter das spezifisch Künstler-
ische zurück. Und um es dazu zu bringen, ist
eine eigens darauf gerichtete Bildung für unsere
weiteren und engeren Volkskreise, vielleicht sogar
für Künstler selber (die ja gerade über ihre eigene
Welt oft unglaublich urteilslos reden), das Haupt-
mittel. Was sich in früheren Zeiten von selber als
ein Kunstsinn des Volkes bilden konnte, das ver-
langt in unseren verwickelteren Verhältnissen eine
systematische Pflege, also eine Fürsorge der Päda-
gogik. So wird schliesslich auch diese zu einer
der Voraussetzungen einer wahrhaft freien, d. h.
nur nach eigener Notwendigkeit lebenden Kunst.
 
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