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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Escherich, Mela: Die Nornen in der Kunst des Mittelalters
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0168

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Die Nornen in der Kunst des Mittelalters.
Eine ikonographische Studie von M. Escherich.

Die Ueberbieibsel aus dem altgermanischen
Kultus spielen in der Religion wie in der religiösen
Kunst des Mittelalters eine ziemliche Rolle. Als
eine solche aus heidnischer Erinnerung hervor-
gegangene Erscheinung muss man die Vermengung
der drei Nornen mit weiblichen Heiligen der christ-
lichen Kirche betrachten. Allerdings hat die Nornen-
mythe bereits den Weg über die Gelehrtenstube
gemacht, bis sie in der christlichen Zeit noch
einmal ins Volk kam. Die alte Mythologie kennt
nur eine Norne Urdh. Erst in der gelehrten Aus-
legung des 12. Jahrhunderts entstand die Dreiteilung,
indem für die Begriffe Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft die drei Nornen Urdh, Verdandi und
Skuld gesetzt wurden. Otte bringt in seiner Kunst-
Archäologie (Bd. I., S. 568) im Zusammenhang mit
dem bekannten Dreijungfrauen-Grabstein im Wormser
Dom eine Notiz von einem Relief aus der Kirche
zu Polling, das 1876 unter dem Namen der „drei
Nornen“ in München ausgestellt gewesen sei.
Was den Wormser Grabstein betrifft, so liegt
die Vermutung nahe, dass es sich um eine volks-
tümliche Verquickung derNornen-mit einer Heiligen-
mythe handelt. Die drei lebensgrossen Gestalten
tragen Kronen und in den Händen Palmen. Ueber
ihnen stehen die Namen St. Embedt, St. Warbedt,
St. Willibedt. Sie sollen nach der Legende (auch
Einbet, Borbet, Vilbet geheissen) Königstöchter und
Gefährtinnen der hl. Ursula gewesen sein und mit
ihr den Märtyrertod gefunden haben.
Eine ähnliche Darstellung befindet sich in der
Pfarrkirche des Dorfes Kidrich (Nassau). Es ist
die geschnitzte Predella des neuerworbenen Flügel-
altars auf der südlichen Empore dortselbst, welcher
etwa dem Ende des 15. Jahrhunderts angehört. Auf
dieser Predella sind drei gekrönte Jungfrauen in
Halbfigur dargestellt. Die erste trägt einen Palm-
zweig und Korb, die zweite ein Buch, die dritte
einen Kelch. Darnach darf man die Heiligen Dorothea,
Katharina (?) und Barbara in ihnen erkennen. Die
Anordnung der drei Figuren erinnert lebhaft an
jene des Wormser Grabreliefs. Beide Werke sind
von der sonstigen Heiligendarstellung der Zeit ver-
schieden. Die drei Gestalten stehen in voller Front
ohne seitliche Wendung oder Biegung nebeneinander,
eine für die Gotik ungewöhnliche Gruppierung.

Auch die Gesichter zeigen keinen individuellen
Unterschied, wonach sonst, auch bei handwerks-
mässiger Ausführung, stets gestrebt wurde. Man
möchte sonach die Verbildlichung dreier zusammen-
gehöriger Begriffe in ihnen sehen.
Die Nornen, welchen schon im frühen Mittel-
alter, die Rollen weiser Frauen und schliesslich
auch schützender Geister zugewiesen wurden,
wandelten sich eben in der christlichen Symbolik
in heilige Jungfrauen um. Zuerst oder vielleicht
gegendenweise erschienen sie als Begleiterinnen
der hl. Ursula und kamen so, als sagenhafte Königs-
töchter aus fernem Norden pilgernd, in die christ-
liche Legende herein. Dann vertauschte man die
weniger bekannten Namen mit geläufigeren, aber
doch nicht ganz willkürlich. Zu beachten ist, dass
die hl. Katharina und Barbara und ausnahmsweise
auch Dorothea1) den 14 Nothelfern zugezählt werden.
Es sind also besondere Fürbitterinnen, welche unter
der Dreizahl erscheinen. Die Idee der Schutzgeister
ist somit erhalten geblieben
Vielleicht liegt aber der Symbolik noch eine
tiefere Bedeutung zu gründe, die ich hier nur frag-
weise anzudeuten wage. Sollten die drei Nornen
als Begriffe des Gewordenen, Werdenden und
Seinsollenden eine neutestamentliche Uebertragung
gefunden haben? Die Auslegung wäre dann etwa
folgende: Katharina mit dem Buch — die durch
das neue Testament gegebene Erlösung; Barbara
mit dem Kelch — die immerwährende Vereinigung
mit Gott durch das Sakrament; Dorothea mit dem
Korb — die Gewissheit des künftigen Lebens. Eine
gedankliche Ueberleitung zu der später auftretenden
Allegorie von Glaube, Liebe und Hoffnung.
Auffallend ist, dass das Motiv des Dreijung-
frauenbildes im ganzen so wenig Verwertung ge-
funden hat und liesse sich daraus wohl schliessen,
dass die allegorische Idee eine mehr gelehrte als
volkstümliche war und deshalb auch nur durch
vereinzelte Aufträge künstlerische Bearbeitung ge-
funden. Für Mitteilungen aus dem Leserkreise über
etwa noch existierende Darstellungen eben be-
schriebener Art wäre ich dankbar.

1) Auf der Predella des bekannten Altars (von Kranach - Pseudo-
griinewald) in der Marktkirche zu Halle ist unter den 14 Nothelfern an
Stelle des fehlenden hl. Georg die hl. Dorothea gesetzt.
 
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