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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Moeller, Alfred: Lange's "bewusste Illusion" und Meinong's "Annahmen": ein Wort zur Klärung
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0282

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Lange’s „bewusste Illusion“ und Meinong’s „Annahmen“.
Ein Wort zur Klärung von Dr. Alfred Möller.

Wo Lange’s Buch „Das Wesen der Kunst“
Gegner fand, immer war der Hauptpunkt aller
Angriffe seine „bewusste Illusion“. Das ist
freilich insoforn schlimm, als ja sie im Kernpunkt
von Lange’s Ausführungen steht, ja den Grund-
stock für seine Folgerungen abgibt.
In der Tat kann man, auch wenn man nicht
zu ängstlich abwägt, etwas wie die „bewusste
Illusion“ nicht gelten lassen. Sie ist psychologisch
unhaltbar.
Was ist eine Illusion? Allgemein versteht man
darunter eine Sinnestäuschung, und zwar eine, bei
der ein Sinneseindruck (also etwa eine wirklich
vorhandene Gesichts- oder Gehörsempfindung)
falsch gedeutet wird. Illusionen im Sinne der
Psychologie hat der Knabe in Goethe’s „Erlkönig“,
wenn er die Weidenbüsche für gespenstische Wesen,
Nebelfetzen über nassen Wiesen für den geschmükten
König der Elfen hält. Illusionen — ihr Auftreten
wird durch ängstliche oder freudige Spannung
gefördert — hat (solche des Gehörsinnes) Schiller’s
Verliebter in der „Erwartung“: „Hör’ ich nicht
das Pförtchen gehen? Hat der Riegel nicht geklirrt?“
Hier wird die Täuschung jedoch sofort als Täuschung
erkannt und entsprechend corrigiert: „Nein, es war
des Windes Wehen, der durch diese Pappeln
schwirrt“ u. s. f. Das heisst doch — wie Jeder-
mann zugestehen wird — die Illusion wird in einem
nachfolgenden Urteil als irrig erkannt, wird bald
durch richtiges Erkennen der Wirklichkeit getilgt,
besteht also nach dem Bewusstwerden, dass es
sich um eine Illussion (= Täuschung) handelte,
nicht mehr.
Noch deutlicher erkennen wir, dass etwas wie
eine „bewusste Illusion“ ein Unding ist, dass sie,
sobald sie als Illusion zum Bewusstsein gelangt
(= als solche erkannt wird), keine Illusion mehr
ist, wenn wir den intelectuellen Vorgang eines eine
Illusion erlebenden einer Kritik unterziehen.
Was tut der, der z. B. die Illusion durch die
Weiden (wie der Knabe im „Erlkönig“) erlebt?
Er fällt offenbar ein Urteil; etwa in der Art:
dort bewegen sich Gespenster. Was gehört nun
vor allem zum psychischen Zustand des Urteilenden?
Dass er von dem Erurteilten überzeugt ist.
Eine „bewusste Illusion“ wäre also ein „mit Be-
wusstsein“ falsch abgegebenes Urteil, also eben
kein Urteil. So heben sich Adjectiv und Substantiv
in dem Lange’schen Begriff gegenseitig auf und
etwas undenkbares wäre die den Kernpunkt seines
Buches bildende bewusste Illusion.

Wohl ist sich Lange dieser Schwierigkeit be-
wusst geworden und er hat die Erklärung gewählt,
dass eben „Bewusstwerden als Illusion“ und „ge-
glaubte Illusion“ in stetem Wechselspiel sich ab-
lösten und dieses ewige Schwanken, diese „psych-
ische Schaukelbewegung“ sogar zur Erhöhung des
Reizes vor Kunstwerken beitrüge.
Es ist seit Erscheinen des Buches oft betont
worden und jedem aus eigenen Erlebnissen von
Kunstwerken sicher klar in Erinnerung zu bringen,
dass eine solche ständige Schaukelbewegung, ein
solches Hin- und Herpendeln zwischen Täuschung
und Loslösung von ihr, nicht nur nicht zum
Wesen des Kunstgenusses gehört, sondern selbst
willkürlich kaum zu erzeugen ist.
Wäre also damit die Lange’sche Theorie ohne
weiteres und für alle Zeiten fallen zu lassen? Nein,
gewiss nicht. Lange hat sogar ungemein fein
beobachtet, er hat eine Fülle von wertvollen Einzel-
heiten gegeben, für deren treffliche Zusammen-
stellung man ihm stets wird danken müssen.
Was die Lange’schen Beispiele vermuten lassen
und was von einem grossen Teile seiner Gegner,
die sich an dem Worte „bewusste Illusion“ stiessen,
nicht geahnt wurde, ist, dass es tatsächlich psy-
chische Vorgänge gibt, die nicht Urteil und doch
mehr als Vorstellung sind und dass diese Vor-
gänge in der menschlichen Psyche eine ungeahnte
Rolle spielen. Meinong in Graz hat unabhängig
von Lange’s Buch diesen psychischen Phänomenen
schon seit Jahren seine Aufmerksamkeit zugewandt,
erhatsieals „Annahmen“ beschrieben und schliess-
lich zum Gegenstände einer ausführlichen Mono-
graphie gemacht.1) Ihr Gebiet ist ein überaus grosses
im Alltagsleben, im kindlichen Spiel, vor Kunst-
werken bilden sie die Grundlage für eigenartig be-
glückende Vorgänge (es gibt auch Annahmen, die
unerfreuliche psychische Zustände im Gefolge haben),
die der Beobachtung Konrad Lange’s ebenfalls nicht
entgangen sind.
Meinong gibt in seinen einleitenden Abschnitten
einige vorzügliche Beispiele, die dem Leser vor
allem einen allgemeinen Begriff von den „Annahmen“
im sprachgebräuchlichen Sinne geben. Man findet
sie dort durch die Formel, „nehmen wir an, dass
sich das so oder so ereignet hätte“ angedeutet.
Weniger leicht erkennbar und selbst dem Psycho-
logen bisher völlig entgangen, finden wir sie etwa
beim kindlichen Spiel.
1) Ueber Annahmen. Von v. Meinong. Leipzig 1902. Verlag
Barth.
 
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