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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Moeller, Alfred: Lange's "bewusste Illusion" und Meinong's "Annahmen": ein Wort zur Klärung
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0283

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231

Kinder spielen z. B. Katze und Maus. Hält
sich nun darin X wirklich für die Maus oder die
Katze? Unser Leser hat wohl schon lächelnd mit
„nein“ entschieden. Das Kind urteilt also nicht:
ich bin eine Maus oder dgl. mehr, es ist also
nicht überzeugt, Maus zu sein. Sein psychisches
Verhalten können wir nun also entschieden so
weit bestimmen: es handelt sich dabei nicht um
Urteile. Ist es nun etwa blosses Vorstellen, da es
doch kein Urteil (und somit natürlich keine
Illusion!) gewesen ist? Beim Vorstellen verhalten
wir uns passiv. Wer sich etwa ein Haus nur vor-
stellt, verhält sich dem gegenüber weder bejahend
noch verneinend. Wie ist es nun in unserem
Beispiel? Dass hier das Kind nicht passiv bleibt,
sondern zu dem Gegebenen bestimmte „Stellung“
nimmt, zeigt sich leicht, wenn etwa irrtümlich, das
die Katze spielende Kind, von einem zerstreuten
Mitspieler für die Maus gehalten wird. Es erfolgt
dann wohl der aufklärende Zuruf: „Aber ich bin
ja die Katze. Ich bin doch nicht die Maus.“
Aus der Negalion erkennt man leicht, dass bereits
über einfach passives Vorstellen hinausgegangen
wurde, dass das Kind die ihm zugeteilte Rolle
bestimmter, eben als eine „Annahme“ erfasst.
Wir haben den Ausdruck „Rolle“ gebraucht
und damit den Weg zum Schauspieler gewiesen.
Auch bei ihm handelt es sich um Annahmen. Im
Zustand der Annahme befindet sich auch der Zu-
schauer im Theater u. s. f. Wie ist es nun mit
den „Gefühlen“, die man im Theater erlebt? Jeder,
der einmal etwa bei einer Aufführung des „Hamlet“
urteilte, dass am Schlüsse die Umsinkenden wirk-
lich verwundet seien, wirklich sterben, benähme
sich gewiss nicht so ruhig, wie wir, die wir eben
nicht davon überzeugt sind, sondern uns anders
(eben nur annehmend) verhalten.
Der Matrose, der unlängst in einem englischen
Sommertheater von der Galerie herabsprang, um
einem (im Spiel) bedrohten Schauspieler auf der
Bühne beizustehen, handelte in der Ueberzeugung
(also urteilend): hier sei einer ernstlich am Leben
bedroht. Dementsprechend hat er wirklich das
Gefühl des Mitleids, des Schreckens u. s. w. erlebt.
Geht es uns, die wir uns nur annehmend ver-
halten, ebenso? Nein, an Annahmen schliessen
sich nicht wirkliche Gefühle, denn erlebten wir im
Schauspiel wirklichen Schrecken, wirkliche Angst
u. s. f., so blieben wir wohl lieber daheim. Die
Annahme hat eben nur gefühlsartige Zustände
zur Folge, die gleichwohl leise beglückend oder
rührend zu wirken vermögen. Auch hier hat Lange
das Richtige geahnt. Seine Scheingefühle decken
sich mit den in den Meinong’schen Aufstellungen
klar erwiesenen und ausgezeichnet beschriebenen
„Phantasiegefühlen“ insoforne nicht, als für Lange
die Scheingefühle nur vorgestellte Gefühle sind.
Sie ergeben sich als ein Mehr aus den Annahmen
von selbst, während man schon ihren Anschluss
an bewusste Illusionen (eben weil mit diesen Un-
annehmbares bezeichnet war), weniger gut ver-
stehen konnte.
Der Laie wird vielleicht anfänglich meinen,
dass er im Theater doch nicht „fortwährend“ an-

nehme, d. h. er wird sich vielleicht den Vorgang
anfänglich zu kompliziert vorstellen. Aber er muss
sich eben klar machen, dass sich die Annahmen
ähnlich wie Vorstellungen und Urteile abspielen.
Ich urteile hundertmal im Tage, ohne mir immer
zu sagen: ich urteile jetzt. Ich stelle tausendfältiges
in derselben Weise vor. Wie einer, der einen
weiten Weg geht, nicht jeden Augenblick sich den
Willensakt ins Bewusstsein ruft und ihn doch sicher
vollführt, so auch der Annehmende.
Wohl wird bei Spielen die Annahme vorher
aufgestellt (d. h. die Rollen werden verteilt)1). Wir
spielen jetzt-Eisenbahn, das sind die Stationen u. s. f.
Nach dem Beginn des Spieles aber denkt niemand
mehr „krampfhaft“ an das Angenommene, sondern
es spielt sich alles glatt ab; die Sicherheit des
Spielgetriebes, aber bezeugt das Fortbestehen der
Annahmen, die nicht immer wieder klar bewusst
werdend, und somit nicht störend und belästigend
die Freude am Spiel trüben. Wie die Annahmen
„unbewusst“ beibehalten werden, zeigt sich jedem
häufig genug in jenen Annahmevorgängen, die wir
als „Luftschlösserbauen“ kennen. Gerade, dass wir
bei ihnen soweit als möglich davon absehen, dass
es sich nur um Angenommenes handelt, bewirkt
die Erquickung, welche die aus diesen Annahmen
hervorgehenden Phantasiegefühle oft stundenlang
gewähren.2) Schwerkranke, denen noch nicht alle
Hoffnung fehlt, die also vom Urteil: „ich bin ver-
loren“, noch entfernt sind, werden täglich so viel
Annahmen und Phantasiegefühle erleben, dass alle
andern psychischen Akte (Vorstellungen, Urteile,
wirkliche Gefühle) daneben an Zahl und Häufigkeit
verschwinden werden.
Diese Andeutungen schon zeigen, welch’ unge-
heuer reiches Feld der Psychologie durch die Ent-
deckung eines Zwischengebietes zwischen Vor-
stellen und Urteilen eröffnet ist. Und auch eine
psychologisch begründete Aesthetik wird ihr hoffent-
lich noch viel zu verdanken haben.
Wir geben nur noch einige Beispiele aus dem
Gebiete der bildenden Kunst, die als Ergänzung
der obigen Erläuterungen dienen sollen. Ich sehe
etwa eine Gewitterlandschaft. Nehme ich die dort
gemalten kleinen dunklen Massen über dem Darunter
im Sinne des Künstlers, also als Gewitterwolken
hin, so schliesst sich daran etwa als Phantasie-
gefühl (bei dazu Veranlangten d. h. bei solchen,
die fähig sind, anzunehmen!): gedrückte Stimmung,
Bangen vor den Naturkräften (nicht eine wirklich
gedrückte Stimmung). Als Beispiel aus dem Be-
reiche der Baukunst: ich folge bei einem gotischen
Dom der vom Künstler durch bestimmte Ver-
wendung des Materiales im Beschauer erstrebten
Annahme, dass der Stein hier nicht nach unten
dränge, sondern das Bestreben habe, sich nach

1) Meinong beschreibt solche Annahmen als aufsuggerierte, z. B. bei
den „Kriegsspielen* des Militärs.
2) Der int elek t u eile Vorgang beim „Luftschlösserbauen“ be-
steht in der Annahme (in dem „Sich-Hineindenken“ in eine erwünschte
Lage). Der gemütliche Vorgang in den anschliessenden Phantasie-
getühlen. Die Gefühle, die der zuversichtliche Paralytiker erlebt, sind
wirkliche, denn er nimmt den Besitz von Millionen und anderen Gütern
(Unsterblichkeit u. s. L), nicht nur an, sondern er urteilt, dass sie ihm
zur Verfügung stehen; daher erlebt er bedeutend mehr Freude als
der nur von Phantasiegefühlen Beglückte, der nur die Annahme der
Erfüllung derartiger Wünsche stellt.
 
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