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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 1. Halbband, Heft 1 - 6.1908

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Heft 4
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Voss, Hermann: Charakterköpfe des Decento: I. Massimo Stanzioni
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https://doi.org/10.11588/diglit.70400#0276
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268 Monatshefte für Kunstwissenschaft

Bedeutendste und Selbständigste Massimo Stanzioni. Er ist durchaus kein Ribera-
schüler; der neapolitanische Vitenschreiber De Dominici weiß überhaupt nichts von
irgend einem Verhältnis Stanzionis zu Ribera, sondern nennt als seinen Lehrer den
mittelmäßigen Porträtisten Fabrizio Santafede, die Artemisia Gentileschi, die Carracci
und Guido Reni — aber keinem dieser Namen entspricht Massimos Kunst wie dem
einen des Spagnoletto. Es ist unschwer, bei Stanzioni Anregungen von den genannten
Künstlern zu begegnen1), aber, um es so zu sagen: das künstlerische Temperament,
durch das bei ihm diese Anregungen hindurch passieren, ähnelt stark dem des Spaniers.
Mit ihm hat er gemein das starke Helldunkel, die Neigung zu neutralen, wenig kräf-
tigen Farben, eine gewisse Dürftigkeit des Bildes an Akzessorischem, das besonders in
Neapel überraschend wirkt und den erwähnten De Dominici zu der Behauptung brachte,
der Cavaliere habe, um die vornehmen Allüren seiner Frau befriedigen zu können,
mehr gemalt, als gut war; dabei sei er zwar niemals in sträfliche Oberflächlichkeit ver-
fallen, habe sich aber bei jedem Bilde mit möglichst wenigen Figuren und Dingen
begnügt.
Also Armut der Erfindung, nicht Flüchtigkeit! Vielleicht ist de Dominici doch im
Irrtum, wenn er so argumentiert. Es begreift sich, daß ihm als Neapolitaner der spä-
teren Zeit die große Zurückhaltung Massimos nicht mehr lag, daß sie ihm als Schwäche
erschien (unser heutiges Urteil lautet anders), und so legte er sich die Geschichte mit
der Putz- und Vergnügungssucht seiner Frau zurecht. Die Wahrheit ist, daß Stanzioni
freilich, selbst neben den Spanier gehalten, dessen Feld begrenzt genug war, etwas
Dürftiges, Mageres hat; seine Sachen wirken nicht sehr, aber sie gehören — ein seltener
Fall in Neapel — zu denjenigen Dingen, die bei näherer Beschäftigung gewinnen. Der
Künstler ist immer gewissenhaft (wie de Dominici eigens anerkennt), niemals flüchtig,
niemals roh; so war es denn auch leicht für die anderen, ihn mit Effektvollem und
Grellen zu übertönen. Daher wird es sich erklären lassen, daß der zu seiner Zeit
durchaus geschätzte Meister doch auf die Länge etwas in den Hintergrund geriet —
in Deutschland ist er schon deshalb eine persona incognita, weil wir kaum Bilder von
ihm haben und er in unseren Kunstbüchern mehr oder weniger ignoriert wird.
Wie soll man auch werben für einen Künstler, dem gerade das Mitreißende,
Geniale abgeht, der durch das Stoffliche niemals reizt oder interessiert und der ge-
rade in dem, was er meisterhaft beherrscht, dem Empfinden der Zeit so unendlich
ferne steht?
Denn worin Massimo vor allem bedeutend ist, das liegt heute nur wenigen:
wer interessiert sich für den heiligen Emidius, wer für den heiligen Bruno, den heiligen
Antonius? Ja, wären die Geschichten dieser Personen vorgetragen von dem Pinsel
eines Trecentisten, in dessen rührender künstlerischer Simplizität (wie man das so nennt)
eine Gewähr der „Echtheit" des religiösen Empfindens enthalten zu sein scheint! Aber

, Über die Stellung zu Reni später. Von Carracci zeigt er sich in der Pieta von S. Mar-
tino angeregt: Haltung und Modellierung des Leichnams Christi entsprechen außerordentlich dem
(neuerdings bezweifelten) Bilde der Pieta, das in mehreren Exemplaren (Rom, Doria, Neapel,
Museo Nazionale u. a.) vorkommt.
 
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