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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 1. Halbband, Heft 1 - 6.1908

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Heft 4
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Voss, Hermann: Charakterköpfe des Decento: I. Massimo Stanzioni
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https://doi.org/10.11588/diglit.70400#0282
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Monatshefte für Kunstwissenschaft

werden ganze Gestalten, und dabei ist ihnen innerhalb des Rahmens auch noch mehr
Spielraum gelassen. Durch solche Veränderungen gewann Stanzioni die Möglichkeit,
die Bewegungen deutlicher und schärfer auszubilden; man erkennt besser das Wider-
streben der Susanna, das Vordringen des vorderen Alten, die Überredungsversuche des
anderen. Damit nicht zufrieden, verstärkte der Neapolitaner alle Motive: Susannens
Oberkörper weicht schaudernd zurück, der Kopf wendet sich jäh zur Seite, die Augen
blicken scharf auf die Verfolger, und während die Linke ängstlich das Gewand an den
Körper drückt, wehrt die Rechte die zudringliche Hand, die einen Zipfel davon ergreift,
von sich ab. Ganz außerordentlich ist, was der Ausdruck des Antlitzes an Intensität
gewonnen hat; auch der vordere Alte ist nicht wie bei Guido halb nachdenklich, son-
dern ganz gespannte Lüsternheit; wirkungsvoll erdacht wurde die Verkürzung, in der
der Kopf des zweiten Greises erscheint. Auch die Rechte, die der vordere warnend
gegen das Kinn erhebt, ist mahnender, sprechender geworden.
Eine starke Resonanz findet das Geistige des Bildes in dem Charakter des Kolo-
rites. Kräftige Lokalfarben sind, wie gewöhnlich bei Stanzioni, nicht vorhanden, selbst
die am meisten sprechenden Töne, das Olivgelb und Weinrot des ersten Greises, sind
nicht sehr stark. Wundervoll weich und goldig das Karnat der Susanna, freilich immer
mit jenem graulichen Anflug, der für den Meister bezeichnend ist, ausgesprochen grau-
weiß das Gewand, an dem der eine Alte zerrt. Riberesk dunkel der Grund. In Vor-
trag, Formensprache, Kolorit ebensoviel Anklänge wie Abweichungen vom Spagnoletto.
Der Stoff der Keuschheit Susannens ist, wie sein Gegenstück: Joseph, den
Lockungen von Potiphars Weib widerstehend, ein Lieblingsthema des Secento, in
Italien wie im Norden. Es sind damals hervorragende Kunstwerke dieses Gegenstandes
entstanden, und um ihrerwillen würde es sich lohnen, einmal alles im Ganzen zu be-
trachten, wie es für einen einzelnen Künstler des Nordens, Rembrandt, bereits geschehen
ist. Eine parallele Darstellung der Verkörperung, die das Thema im Süden und der,
die es in den nordischen Ländern fand, könnte zur Erkenntnis der künstlerischen Ge-
meinsamkeiten und Verschiedenheiten hier und da im Secento von Nutzen sein. Auch
für die Richtigkeit der eingangs behaupteten starken lokalen Abweichungen innerhalb
Italiens könnte sich mancherlei dafür ergeben — gerade in unserem Falle, wo der
Neapolitaner an den Bolognesen anknüpft, ist der Abstand mit Händen zu fassen: er
ist keineswegs nur individuell, sondern greift über das Persönliche weit hinweg in all-
gemeine Fragen des Volkstumes über.
 
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