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Monatshefte für Kunstwissenschaft
Bestandteile nacheinander, im Unterschied von der sinnlichen Anschauung des Bildes
und der plastischen Geschlossenheit der Reliefkomposition, die aus der Antike über-
kommen waren. Die malerische Bildeinheit weicht zugunsten der poetischen Vorgangs-
einheit, und die Aufreihung der Motive oder gar der Einzelfiguren tritt an die Stelle.
Damit hängt auch die Wahl des Formates zusammen: statt des annähernd quadra-
tischen Rechtecks, das querliegende langgestreckte, in Wandgemälden wie in Minaturen,
— bei den ersteren für den entlangschreitenden Betrachter im Kirchenraum, bei den
letzteren für den Leser des Textes, seiner Gewohnheit angepaßt. Eben deshalb möchte
ich mit den Wandgemälden in S. Angelo in formis und den Bildstreifen byzantinischer
Miniaturen nicht die Reliefbilder an den Bernwardstüren zu Hildesheim oder die ganz-
seitigen Darstellungen des Psalterium aureum von S. Gallen auf eine Stufe gestellt
sehen (Z. 38,3). Sie lassen wieder zwei Anschauungsweisen unterscheiden. Die letztere
neigt zur Überschau eines tieferen Schauplatzes aus der Höhe und zur Landkartenprojek-
tion in Vogelperspektive; 9 die erstere kennt nur Vordergrund und demgemäß Auf-
reihung nebeneinander. Diese ist älter, oder doch der antiken Tradition klassischer
Kunst näher geblieben; zu ihr gehören die Urbilder der Wundertaten Christi, von
denen die Reichenau jene späte Wiederholung bewahrt. Die Hervorhebung der Person
Christi durch größeren Maßstab, durch Isolierung u. dgl. Mittel verrät gerade, daß die
antike Rechnung mit Körpern allein, d. h. die plastische Kompositionsweise noch immer
zugrunde liegt. Aber die Profilbewegung und die ausgreifenden Gebärden bieten uns
auch die Vergleichsmomente mit dem Repräsentationsbilde zu Münster in Graubünden,
besonders mit den Engeln und der Mimik der Apostel. Und die Einzelfiguren zwischen
den Fenstern in Oberzell gehören doch auch dazu und gewähren den Übergang zum Bilde
des Altarhauses, das in dieser Kirche zerstört ist. An die Kompositionsweise der feier-
lichen Vision mit den paarweis gruppierten Jüngern und den Einzelfiguren der Ver-
mittler schließen sich die ursprünglichen, auf der Reichenau etwas verzettelten Redak-
tionen der Wunder Christi nah genug an, um die Zugehörigkeit zur sakralen Kunst
näher empfinden zu lassen, als die andere zu den profanen Historien der jüdischen
Könige, die freilich als Handlungen, im Vollzug des Geschehens, mit den Taten des
Gottessohnes auf Erden verwandt sind.
Wenn unter den Geschichten von Absalom eine Parallele aus dem Leben Christi
oder irgendein neutestamentlicher Zyclus analoger Art vorhanden war, so dürften wir
freilich in demselben Format auch eine größere Geschlossenheit erwarten. Aber wir
bekämen gewiß auch Antwort auf manche Frage, die sich bei dem Versuche aufdrängt,
die ursprünglichen Elemente der ernsten einfachen, aber auf religiöse Wirkung aus-
gehenden Kompositionen aus den Wandgemälden der Reichenau herauszuschälen.
Inhaltlich stehen ja die Wunder Christi zwischen den naiv und flott erzählenden
Historien nach dem Buche Samuels und den zeremoniell und autoritativ, für bleibende
9 Einen Hinweis auf den Utrechtpsalter, der für diese nordische Auffassung so wichtig ist,
unterdrücke ich, weil ich der Kürze halber auch die Frage nach der Herkunft der Wandgemälde
in Münster offen gelassen habe. Von Nachbargebieten scheint mir Mailand aus mehreren Gründen
den Vorzug vor Ravenna zu beanspruchen; aber in seinem Zusammenhang mit dem südlichen
Gallien und dem Frankenreich.
Monatshefte für Kunstwissenschaft
Bestandteile nacheinander, im Unterschied von der sinnlichen Anschauung des Bildes
und der plastischen Geschlossenheit der Reliefkomposition, die aus der Antike über-
kommen waren. Die malerische Bildeinheit weicht zugunsten der poetischen Vorgangs-
einheit, und die Aufreihung der Motive oder gar der Einzelfiguren tritt an die Stelle.
Damit hängt auch die Wahl des Formates zusammen: statt des annähernd quadra-
tischen Rechtecks, das querliegende langgestreckte, in Wandgemälden wie in Minaturen,
— bei den ersteren für den entlangschreitenden Betrachter im Kirchenraum, bei den
letzteren für den Leser des Textes, seiner Gewohnheit angepaßt. Eben deshalb möchte
ich mit den Wandgemälden in S. Angelo in formis und den Bildstreifen byzantinischer
Miniaturen nicht die Reliefbilder an den Bernwardstüren zu Hildesheim oder die ganz-
seitigen Darstellungen des Psalterium aureum von S. Gallen auf eine Stufe gestellt
sehen (Z. 38,3). Sie lassen wieder zwei Anschauungsweisen unterscheiden. Die letztere
neigt zur Überschau eines tieferen Schauplatzes aus der Höhe und zur Landkartenprojek-
tion in Vogelperspektive; 9 die erstere kennt nur Vordergrund und demgemäß Auf-
reihung nebeneinander. Diese ist älter, oder doch der antiken Tradition klassischer
Kunst näher geblieben; zu ihr gehören die Urbilder der Wundertaten Christi, von
denen die Reichenau jene späte Wiederholung bewahrt. Die Hervorhebung der Person
Christi durch größeren Maßstab, durch Isolierung u. dgl. Mittel verrät gerade, daß die
antike Rechnung mit Körpern allein, d. h. die plastische Kompositionsweise noch immer
zugrunde liegt. Aber die Profilbewegung und die ausgreifenden Gebärden bieten uns
auch die Vergleichsmomente mit dem Repräsentationsbilde zu Münster in Graubünden,
besonders mit den Engeln und der Mimik der Apostel. Und die Einzelfiguren zwischen
den Fenstern in Oberzell gehören doch auch dazu und gewähren den Übergang zum Bilde
des Altarhauses, das in dieser Kirche zerstört ist. An die Kompositionsweise der feier-
lichen Vision mit den paarweis gruppierten Jüngern und den Einzelfiguren der Ver-
mittler schließen sich die ursprünglichen, auf der Reichenau etwas verzettelten Redak-
tionen der Wunder Christi nah genug an, um die Zugehörigkeit zur sakralen Kunst
näher empfinden zu lassen, als die andere zu den profanen Historien der jüdischen
Könige, die freilich als Handlungen, im Vollzug des Geschehens, mit den Taten des
Gottessohnes auf Erden verwandt sind.
Wenn unter den Geschichten von Absalom eine Parallele aus dem Leben Christi
oder irgendein neutestamentlicher Zyclus analoger Art vorhanden war, so dürften wir
freilich in demselben Format auch eine größere Geschlossenheit erwarten. Aber wir
bekämen gewiß auch Antwort auf manche Frage, die sich bei dem Versuche aufdrängt,
die ursprünglichen Elemente der ernsten einfachen, aber auf religiöse Wirkung aus-
gehenden Kompositionen aus den Wandgemälden der Reichenau herauszuschälen.
Inhaltlich stehen ja die Wunder Christi zwischen den naiv und flott erzählenden
Historien nach dem Buche Samuels und den zeremoniell und autoritativ, für bleibende
9 Einen Hinweis auf den Utrechtpsalter, der für diese nordische Auffassung so wichtig ist,
unterdrücke ich, weil ich der Kürze halber auch die Frage nach der Herkunft der Wandgemälde
in Münster offen gelassen habe. Von Nachbargebieten scheint mir Mailand aus mehreren Gründen
den Vorzug vor Ravenna zu beanspruchen; aber in seinem Zusammenhang mit dem südlichen
Gallien und dem Frankenreich.