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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 1. Halbband, Heft 1 - 6.1908

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Heft 5
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Schmid, Heinrich Alfred: Die Stuppacher Madonna des Matthias Grünewald
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https://doi.org/10.11588/diglit.70400#0388
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Monatshefte für Kunstwissenschaft

mußte, daß er die nördlichsten Teile Württembergs absuchte. Aber ich glaubte die
Wiedergabe des Bildes doch in den Textband meines Werkes verweisen zu können
und hatte deshalb auch einen nochmaligen Besuch des abgelegenen Ortes immer wieder
hinausgeschoben.
Denn ich vermißte die Flammenzeichen jener leidenschaftlichen, zur Ekstase
geneigten Grundstimmung, die mir für wirkliche Kunst im allgemeinen charakteristisch
scheint und die sich bei Grünewald sonst ebensosehr in der Darstellung der Freuden
wie der Leiden, des Ruhenden wie des Bewegten, der Form wie des Ausdrucks, der
Knöchel eines Fingers, wie der landschaftlichen Ferne äußert. Es fehlt das leiden-
schaftliche Colorit und die übertreibende Charakteristik der Form.
Bilder, die nur in der oder jener Hinsicht die Eigenart eines großen Meisters
verraten, pflegen aber sich bei genauerer Kenntnis als Bilder von Schulgenossen oder
Nachahmern zu entpuppen.
In diesem Falle verhält es sich anders. Die Komposition ist zwar reicher und kon-
zentrierter als die der Colmarer Madonna. Aber Grünewald ist zahmer geworden. Es ist
schmerzlich, sich dies einzugestehen, aber man wird sich dazu entschließen müssen. Der
Hofmaler des Kardinal Albrecht scheint dieselben Pfade betreten zu haben, die der sächsische
Hofmaler wandelte, nachdem audi er in seiner Jugend die Berliner Ruhe auf der
Flucht und die Schleisheimer Kreuzigung geschaffen. Durch Übermalungen und leichtere
Retouchen ist dann die Handschrift des Künstlers noch mehr verflaut worden. Für
jeden, dem Colmar und die Karlsruher Bilder ein aufregendes Erlebnis waren, wird das Bild
heute noch — wenigstens in seiner jetzigen Aufstellung und Beleuchtung eine Ent-
täuschung sein. Im Freien mögen die unberührten Teile stärker zur Geltung kommen
und sich auch besser von den verflauten und ganz übermalten abheben. Ich habe
das Bild unglücklicherweise auch bei einem zweiten Besuch nicht im Freien sehen können.
Aber das Bild so hoch einzuschätzen wie Konrad Lange es tut, wird mir kaum je
möglich sein.
Die Übermalungen gehen m. E. viel weiter als er und auch W. Ettle annehmen.
Der Mittelpunkt der ganzen Darstellung, das Gesicht der Maria sowie das Gesamtcolorit
können nicht die ursprünglichen sein. Wir müßten uns denn irren, wenn wir das
ganze Bild Grünewald zuschreiben.
Interessant ist das Werk auch so.
Zur Erläuterung der Abbildung und zur Orientierung, über das, was dargestellt
ist, sei folgendes vorausgeschickt.
Den Sitz der Mutter bildet eine Steinbrüstung, die man links im rechten Winkel
sich gegen vorne umwenden sieht. Der Boden, auf dem sich das Gewand ausbreitet,
ist mit Gras bewachsen, rechts steht vorn ein Blumentopf mit Lilien, rosaroten Rosen,
einer dritten Pflanze, die in die Gattung der Kompositen gehört (wahrscheinlich Anthe-
mis tinctoria), und einer vierten, die mein Gewährsmann aus den vorhandenen Photo-
graphien bisher noch nicht bestimmen konnte1).
9 Die Bestimmung der Pflanzen verdanke ich der Liebenswürdigkeit des Ordinarius für
Anatomie und Physiologie der Pflanzen an der deutschen Universität in Prag Prof. Hans Molisch.
 
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