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Monatshefte für Kunstwissenschaft
Es besteht im allgemeinen Unklarheit in der Anwendung dieser Benennungen.
Zwar wird stets „Studie" als Begriff von „Bild" getrennt, als „Studie" die Vorarbeit,
als „Bild" deren Resultat, das fertige Werk, bezeichnet, jene aber zerfällt in zwei
scharf zu scheidende Teile, deren zweiter erst die „Studien" sind. Der Künstler ent-
wirft die Komposition: die der gesamten Erscheinung, der Gruppen, der einzelnen
Figuren. Er legt darin den Willen zum Werke zuerst fest, wie er dann im Bilde
vollendet wird. Dabei durchlebt er den glücklichsten Moment seines Schaffens, den
der Inspiration. Darnach erst beginnt er die Studien, d. h. er will das erfassen lernen,
was er noch nicht beherrscht und besitzen muß, um den Entwurf zur Realisation, zum
Bilde ausgestalten zu können.
I und II (Abb. 3) sind Entwürfe zum Haman.1) Der erste, linke wurde etwas
zögernd begonnen, die Wendung des Kopfes auf der Achse der Schultern, namentlich
die Stellung zum Schlüsselbein, nicht ganz unbefangen gezeichnet. Auch der rechte
Oberschenkel ist zaudernd, noch unfrei, bedacht konstruktiv. Aber schon beim Torso
und dann beim linken Bein war die Feder im Fluß. Und dann, nachdem so die In-
spiration erwacht war, frei von jedem Calcul, der wundervolle, in rasender Hast hin-
gesetzte Entwurf daneben. Ein Minute begeisterter Konzentration, und fertig die
Figur, die ganze Pracht des nach vorne übergesunkenen Oberkörpers, der eingezogene
Leib, das willenlos hängende linke, das krampfhaft gebeugte rechte Bein.
III (Abb. 4) ist dann in der Tat eine flüchtige Studie. Die Inspiration ist ver-
flogen. Das Modell tritt in Funktion. Die Stellung ist verändert. Mit dem Modelle
beginnt die Beeinflussung des Ingeniums von außen. Es nimmt nach ungefährer An-
gabe des Künstlers eine Stellung ein. Der Künstler läßt sich verleiten. Die Stellung
gefällt ihm, obgleich eine dem Entwürfe fremde Bewegung und Form in der vor ihm
befindlichen Erscheinung ist.
Im Gegensätze zu den freien Entwürfen sehen wir nun die Sorge des Studiums
einsetzen. Während die Formenerscheinung der ersten Zeichnungen aus Überlegungen
über die Konstruktion entstanden war, bestand sie diesmal vor dem Künstler, und er
hatte in ihr die Konstruktion verstehen zu lernen. Kein Muskel ist anatomisch über-
legt, um dadurch die Silhouette oder Lage der Glieder zu finden, die Silhouette ist
nach der Natur abgezeichnet und dann die feststehende Form durch die Schraffierungen,
die stets im Sinne der Modellierung gehalten sind, belebt worden: statt konstruktiv
zu entwickeln, Konstruktion hineingebracht.
Diese flüchtige Studie ist in der Methode gezeichnet, die ich erklärt habe. Ich unter-
lasse hier den Beleg, da die große Studie der Malcolm-Sammlung (IV., Abb. 6) dazu reicheres
Material gibt, und deren Beschreibung zugleich auf die erste zurückwirken wird.
Diese große, ausführliche Studie zeigt wiederum eine andere Stellung und
zwar, kombiniert mit dem Blatte des Teyler-Museums (VI., Abb. 8), die definitive des
Fresko (Abb. 5). Die augenfälligste Veränderung ist, daß sich die Bewegung nicht
mehr nach der linken Seite wendet, sondern nach rechts.
9 Schon die Tatsache, daß die linke Figur an einen Baum gebunden ist, beweist ihre
Zugehörigkeit.
Monatshefte für Kunstwissenschaft
Es besteht im allgemeinen Unklarheit in der Anwendung dieser Benennungen.
Zwar wird stets „Studie" als Begriff von „Bild" getrennt, als „Studie" die Vorarbeit,
als „Bild" deren Resultat, das fertige Werk, bezeichnet, jene aber zerfällt in zwei
scharf zu scheidende Teile, deren zweiter erst die „Studien" sind. Der Künstler ent-
wirft die Komposition: die der gesamten Erscheinung, der Gruppen, der einzelnen
Figuren. Er legt darin den Willen zum Werke zuerst fest, wie er dann im Bilde
vollendet wird. Dabei durchlebt er den glücklichsten Moment seines Schaffens, den
der Inspiration. Darnach erst beginnt er die Studien, d. h. er will das erfassen lernen,
was er noch nicht beherrscht und besitzen muß, um den Entwurf zur Realisation, zum
Bilde ausgestalten zu können.
I und II (Abb. 3) sind Entwürfe zum Haman.1) Der erste, linke wurde etwas
zögernd begonnen, die Wendung des Kopfes auf der Achse der Schultern, namentlich
die Stellung zum Schlüsselbein, nicht ganz unbefangen gezeichnet. Auch der rechte
Oberschenkel ist zaudernd, noch unfrei, bedacht konstruktiv. Aber schon beim Torso
und dann beim linken Bein war die Feder im Fluß. Und dann, nachdem so die In-
spiration erwacht war, frei von jedem Calcul, der wundervolle, in rasender Hast hin-
gesetzte Entwurf daneben. Ein Minute begeisterter Konzentration, und fertig die
Figur, die ganze Pracht des nach vorne übergesunkenen Oberkörpers, der eingezogene
Leib, das willenlos hängende linke, das krampfhaft gebeugte rechte Bein.
III (Abb. 4) ist dann in der Tat eine flüchtige Studie. Die Inspiration ist ver-
flogen. Das Modell tritt in Funktion. Die Stellung ist verändert. Mit dem Modelle
beginnt die Beeinflussung des Ingeniums von außen. Es nimmt nach ungefährer An-
gabe des Künstlers eine Stellung ein. Der Künstler läßt sich verleiten. Die Stellung
gefällt ihm, obgleich eine dem Entwürfe fremde Bewegung und Form in der vor ihm
befindlichen Erscheinung ist.
Im Gegensätze zu den freien Entwürfen sehen wir nun die Sorge des Studiums
einsetzen. Während die Formenerscheinung der ersten Zeichnungen aus Überlegungen
über die Konstruktion entstanden war, bestand sie diesmal vor dem Künstler, und er
hatte in ihr die Konstruktion verstehen zu lernen. Kein Muskel ist anatomisch über-
legt, um dadurch die Silhouette oder Lage der Glieder zu finden, die Silhouette ist
nach der Natur abgezeichnet und dann die feststehende Form durch die Schraffierungen,
die stets im Sinne der Modellierung gehalten sind, belebt worden: statt konstruktiv
zu entwickeln, Konstruktion hineingebracht.
Diese flüchtige Studie ist in der Methode gezeichnet, die ich erklärt habe. Ich unter-
lasse hier den Beleg, da die große Studie der Malcolm-Sammlung (IV., Abb. 6) dazu reicheres
Material gibt, und deren Beschreibung zugleich auf die erste zurückwirken wird.
Diese große, ausführliche Studie zeigt wiederum eine andere Stellung und
zwar, kombiniert mit dem Blatte des Teyler-Museums (VI., Abb. 8), die definitive des
Fresko (Abb. 5). Die augenfälligste Veränderung ist, daß sich die Bewegung nicht
mehr nach der linken Seite wendet, sondern nach rechts.
9 Schon die Tatsache, daß die linke Figur an einen Baum gebunden ist, beweist ihre
Zugehörigkeit.