Heft 6
II. Jahrg.
1909
Studien über die Benutzung der Antike
in der Renaissance
Von Paul Gustav Hübner
Für die Erforschung des Einflusses der Antike auf die Renaissance werden
immer solche Fälle von Anlehnungen an antike Originale wertvoll sein, wo sich unab-
hängig von dem stilistischen Beweise der Übereinstimmung zwischen antikem und
modernem Motiv nachweisen läßt, daß ein Exemplar des Typus zu der in Frage
kommenden Zeit den Künstlern zugänglich war. Der Beweis aus den Objekten allein
genügt nur, wenn es sich um genaue Kopien von unbedeutenden Künstlern handelt, die
alle Einzelheiten des Vorbildes wiedergeben, oder wenn die fremden Elemente nicht
genügend verarbeitet sind und die stilistische Einheitlichkeit des Kunstwerkes stören.
Wenn der Künstler sich das Original ganz zu eigen gemacht hat, wird meistens die
Behauptung der Abhängigkeit sich nur als bescheidene Vermutung geben dürfen; und
es bleibt immer die Möglichkeit, die Übereinstimmungen als zufällig gleiche Einzel-
produkte einer im ganzen gleichartigen Entwicklung oder wenigstens als selbständige
Weiterbildungen eines ähnlichen von der Antike übernommenen Typus anzusehen.
Wenn sich dagegen das Original, dessen Nachahmung behauptet wird, in einer Antiken-
sammlung der Renaissance nachweisen läßt, wird man der Abhängigkeit ebenso gläubig
gegenüberstehen, wie etwa einer Nachbildung des Laokoon nach 1506. Die Inventare
und Periegesen jener Zeit, die Skizzenbücher italienischer und niederländischer Künstler
stellen ein wertvolles Urkundenmaterial dar für den Nachweis der Wirkung antiker
Monumente. Bei den nachfolgenden Bemerkungen spielt es eine Hauptrolle.
I.
DER ISAAK DES BRUNELLESCHI
In der eleganten Gestalt des Isaak auf dem Konkurrenzrelief des Ghiberti hat
man schon längst eine Nachbildung der Antike vermutet.
Erst kürzlich hat Grünwald das Original in dem Münchener Ilioneus zu finden
geglaubt1). Er findet Übereinstimmungen „in der jugendlichen Schönheit des nackten
') Österr. Jahrbuch XXVII, 1908, S. 155 ff.
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