II. Jahrg. Heft 7 1909
Sebastiano del Piombo in den vatikanischen Stanzen
Von Martin Wackernagel
Mit dem Regierungsantritt Papst Leos X. (März 1513) verknüpft sich in Raffaels
künstlerischer Tätigkeit zeitlich — vielleicht auch zum Teil ursächlich — die verhängnis-
volle Wendung zum großen Werkstattbetrieb, durch den der allgemeine Charakter
seiner letzten Jahre so sehr verunglimpft ist.
Von den vatikanischen Wandgemälden gehören diejenigen des dritten Saales,
der „stanza dell' incendio" (beg. 1514) in der Ausführung fast völlig, aber auch in
der Komposition zum großen Teil offenbar Schülerhänden an.1) Aber auch schon in
den Bildern des noch unter Julius II. begonnenen Heliodorzimmers machen sich an
verschiedenen Stellen Inkongruenzen und Abweichungen von Raffaels eigener Art
bemerkbar, die der Annahme einer alleinigen Autorschaft des Meisters für den ganzen
Saal entgegentreten, und den Betrachter auffordern, zur Gewinnung einer reinen An-
schauung vom Werk Raffaels, alle die fremden Bestandteile auszusondern.
Mit einer derartigen Aussonderung der Schülerarbeit waren in ganz besonders
radikaler Weise schon Crowe und Cavalcaselle in ihrer Raffaelmonographie 2) voran-
gegangen; sie hatten ausgedehnte Teile aller Bilder nicht nur in der Ausführung,
sondern auch im detaillierten Entwurf teils dem Gio. Francesco Penni, teils Giulio
Romano zugewiesen.
Eine neuere diesen letztgenannten Raffaelschülern im besonderen gewidmete
Arbeit (Dollmayr, Raffaels Werkstätte) 3) hat freilich die meisten dieser Zuweisungen
unhaltbar gemacht und, da Nachrichten über andere namhafte Gehilfen Raffaels in
diesen Jahren nicht erhalten sind, die ganze Arbeit mit geringen Einschränkungen doch
wieder dem Meister selbst zurückgegeben, die unleugbaren stilistischen Ungleichheiten
partiellen mehr oder weniger ungeschickten Restaurationen auf Rechnung gesetzt.
Dagegen glaube ich aber nochmals auf die schon von Crowe und Cavalcaselle
bemerkte Schwierigkeit hinweisen zu müssen, daß Raffael wirklich sollte imstande
gewesen sein in der kurzen Zeit die ihm unter dem beständigen Drängen des un-
5 Dollmayr. Raffaels Werkstätte. (Jahrbuch d. ah. Kaiserhauses 1895, p. 248 ff.)
2) II, p. 114, 123ff.
3) a. a. 0. p. 241 ff.
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