DER MEISTER DES HAUSBUCHS ALS
ZEICHNER FÜR DEN HOLZSCHNITT
Mit siebzehn Abbildungen auf acht Tafeln Von EDUARD FLECHSIG
Die Leser dieser Zeitschrift erinnern sich wohl noch der seltsamen Rundfrage,
die im Januar 1910 im Cicerone (2. Jahrg., Heft 2, S. 71—74) unter dem Titel
„Ex ungue leonem" erschien, und der Aufklärung, die ich dann im 6. Heft (März),
S. 193 gab. Am Schlüsse stellte ich dort über das Werk, um das es sich handelte,
den Drachschen „Spiegel der menschlichen Behältnis" und die darin enthaltenen
Holzschnitte des Hausbuchmeisters einen größeren Aufsatz in Aussicht. Dieser soll
nun hier folgen1). Bevor ich mich jedoch zur Sache äußere, muß ich etwas weiter
ausholen und zunächst über den äußeren Verlauf meiner Studien, sodann über einige
glückliche Umstände berichten, durch deren Zusammentreffen ich in die Lage ver-
setzt wurde, in der Hausbuchmeister-Forschung eine besondere Stellung einzu-
nehmen und einen größeren Vorsprung vor meinen Fachgenossen zu gewinnen.
Für jeden, der sich mit dem deutschen Holzschnitt zur Zeit Schongauers und
Dürers beschäftigen will, ist und bleibt Rich. Muthers „Bücherillustration der
Gotik und Frührenaissance" trotz des flüchtig geschriebenen und in vielen tat-
sächlichen Angaben unzuverlässigen Textes noch heute ein unentbehrliches Werk,
das sich jedenfalls — man sollte es wenigstens meinen — in allen größeren Kupfer-
stichsammlungen, in der Bibliothek eines jeden größeren Museums befindet. Als
ich im Herbst 1895 das Erbe Wesselys am Herzogl. Museum in Braunschweig an-
trat, fand ich jedoch zu meinem Bedauern das Buch nicht vor. Die Mittel, es an-
zuschaffen, hatten bisher gefehlt und fehlten noch einige Jahre lang. Endlich —
ich kann den Tag noch genau angeben, es war der 18. November 1899 — traf es
hier ein. Ich beginne sofort den Tafelband langsam durchzublättern. Auf einmal
zwingt mich eine starke Erregung, inne zu halten, mein Blick fällt eben auf die
Seiten 64 und 65. Welche Überraschung! Holzschnitte des Hausbuchmeisters,
wer hätte sie hier erwartet? Wie viel hundert Augen mochten schon auf ihnen
geruht haben, und niemand hatte ihren Schöpfer erkannt? Also nicht nur Stecher,
nicht nur Maler, sondern nun auch noch Zeichner für den Holzschnitt! Ein paar
Jahre lang, zuletzt 1897, hatte ich mich eifrig, aber ohne rechtes Glück, abgemüht,
ihm auf die Spur zu kommen, und da lag sie nun plötzlich vor mir, sie brauchte
nur verfolgt zu werden. Denn wo das Buch, dem Muther diese Holzschnitte ent-
nommen hatte, gedruckt war, da hatte der Zeichner aller Wahrscheinlichkeit nach
auch gewohnt. Dieser Schluß lag nahe. Aber wo war es denn gedruckt? Ich
schlage das Inhaltsverzeichnis nach. Muther gibt für die Tafeln 64—66a an:
„10 Blätter aus der 5. Ausgabe des Spiegels menschlicher Behältnis, Basel, Bernhard
Richel, 1476" und verweist auf die Beschreibung im Textband Nr. 134. Das mußte
ein Irrtum sein. Ich kannte eine Anzahl von Holzschnitten aus dieser Baseler Aus-
gabe, sie waren völlig anders als die von Muther veröffentlichten. Da war guter
Rat teuer. Zunächst freilich mußte ich den Wunsch, das Rätsel zu lösen, fast ge-
waltsam in mir zurückdrängen. Meine Cranachstudien waren noch im Druck, zum
Teil im Manuskript noch nicht einmal fertig, meine Ausgabe der Cranachschen
(1) Der Verfasser bittet bemerken zu dürfen daß das Manuskript dieses Aufsatzes bereits in der
2. Hälfte des August 1910 an die Redaktion abgegangen ist. Es konnte jedoch in Anbetracht seines
Umfanges erst jetzt veröffentlicht werden. Anm. der Red.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, IV. Jahrg. 1911, Heft 3.
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ZEICHNER FÜR DEN HOLZSCHNITT
Mit siebzehn Abbildungen auf acht Tafeln Von EDUARD FLECHSIG
Die Leser dieser Zeitschrift erinnern sich wohl noch der seltsamen Rundfrage,
die im Januar 1910 im Cicerone (2. Jahrg., Heft 2, S. 71—74) unter dem Titel
„Ex ungue leonem" erschien, und der Aufklärung, die ich dann im 6. Heft (März),
S. 193 gab. Am Schlüsse stellte ich dort über das Werk, um das es sich handelte,
den Drachschen „Spiegel der menschlichen Behältnis" und die darin enthaltenen
Holzschnitte des Hausbuchmeisters einen größeren Aufsatz in Aussicht. Dieser soll
nun hier folgen1). Bevor ich mich jedoch zur Sache äußere, muß ich etwas weiter
ausholen und zunächst über den äußeren Verlauf meiner Studien, sodann über einige
glückliche Umstände berichten, durch deren Zusammentreffen ich in die Lage ver-
setzt wurde, in der Hausbuchmeister-Forschung eine besondere Stellung einzu-
nehmen und einen größeren Vorsprung vor meinen Fachgenossen zu gewinnen.
Für jeden, der sich mit dem deutschen Holzschnitt zur Zeit Schongauers und
Dürers beschäftigen will, ist und bleibt Rich. Muthers „Bücherillustration der
Gotik und Frührenaissance" trotz des flüchtig geschriebenen und in vielen tat-
sächlichen Angaben unzuverlässigen Textes noch heute ein unentbehrliches Werk,
das sich jedenfalls — man sollte es wenigstens meinen — in allen größeren Kupfer-
stichsammlungen, in der Bibliothek eines jeden größeren Museums befindet. Als
ich im Herbst 1895 das Erbe Wesselys am Herzogl. Museum in Braunschweig an-
trat, fand ich jedoch zu meinem Bedauern das Buch nicht vor. Die Mittel, es an-
zuschaffen, hatten bisher gefehlt und fehlten noch einige Jahre lang. Endlich —
ich kann den Tag noch genau angeben, es war der 18. November 1899 — traf es
hier ein. Ich beginne sofort den Tafelband langsam durchzublättern. Auf einmal
zwingt mich eine starke Erregung, inne zu halten, mein Blick fällt eben auf die
Seiten 64 und 65. Welche Überraschung! Holzschnitte des Hausbuchmeisters,
wer hätte sie hier erwartet? Wie viel hundert Augen mochten schon auf ihnen
geruht haben, und niemand hatte ihren Schöpfer erkannt? Also nicht nur Stecher,
nicht nur Maler, sondern nun auch noch Zeichner für den Holzschnitt! Ein paar
Jahre lang, zuletzt 1897, hatte ich mich eifrig, aber ohne rechtes Glück, abgemüht,
ihm auf die Spur zu kommen, und da lag sie nun plötzlich vor mir, sie brauchte
nur verfolgt zu werden. Denn wo das Buch, dem Muther diese Holzschnitte ent-
nommen hatte, gedruckt war, da hatte der Zeichner aller Wahrscheinlichkeit nach
auch gewohnt. Dieser Schluß lag nahe. Aber wo war es denn gedruckt? Ich
schlage das Inhaltsverzeichnis nach. Muther gibt für die Tafeln 64—66a an:
„10 Blätter aus der 5. Ausgabe des Spiegels menschlicher Behältnis, Basel, Bernhard
Richel, 1476" und verweist auf die Beschreibung im Textband Nr. 134. Das mußte
ein Irrtum sein. Ich kannte eine Anzahl von Holzschnitten aus dieser Baseler Aus-
gabe, sie waren völlig anders als die von Muther veröffentlichten. Da war guter
Rat teuer. Zunächst freilich mußte ich den Wunsch, das Rätsel zu lösen, fast ge-
waltsam in mir zurückdrängen. Meine Cranachstudien waren noch im Druck, zum
Teil im Manuskript noch nicht einmal fertig, meine Ausgabe der Cranachschen
(1) Der Verfasser bittet bemerken zu dürfen daß das Manuskript dieses Aufsatzes bereits in der
2. Hälfte des August 1910 an die Redaktion abgegangen ist. Es konnte jedoch in Anbetracht seines
Umfanges erst jetzt veröffentlicht werden. Anm. der Red.
Monatshefte für Kunstwissenschaft, IV. Jahrg. 1911, Heft 3.
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