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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

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Lediglich einige Worte allgemeiner Charakterisierung gestattet der denselben
zugemessene Raum vor allem auf die Umrahmung der Kanonestabellen zu ver-
wenden. Die altsyrische Form der Arkade, an welche noch die den Armeniern
hier geläufige Bezeichnung „Kamara"1) erinnert, ist so gut als vollständig vergessen.
Der neue wurzelhaft persische Schmuckstil, der um die Jahrtausendwende im Zu-
sammenhang mit der seldschukischen Türkeninvasion seinen Einzug in die armenische
Kunst gehalten haben dürfte2), hat den denkbar vollständigsten Sieg gefeiert. Eine
in ihren Einfällen unerschöpfliche „Lust zu fabulieren" — um mit Goethe zu reden —
beherrscht die geradezu aufgeregt wirkenden Phantasiearchitekturen, deren luftiges
Stützenwerk ein regelmäßig im Rechteck abschließender Oberbau beschwert.
Pflanzenranken und Blumen, Vögel und Vierfüßler, menschliche Köpfe und Voll-
gestalten, an Sphingen und Harpyien erinnernde, aus Menschlichem und Tierischem
gemischte Märchenwesen überwuchern völlig die geometrischen Motive, unter denen
dasjenige des Flechtbandes eine bemerkenswerte Stellung einnimmt. Ein derber
Humor kommt vielfach zu Wort, der an die grotesken Wasserspeier gotischer
Kathedralen gemahnt. Besonders gilt dies von Zieraufsätzen, welche der Oberbau
noch zu erhalten pflegt8). Die zwei ersten „Kamaren" dieser Art umschließen
jeweils den Text des von Eusebios als Vorwort der Kanones an Karpianos ge-
richteten Briefes, und hier werden — der einzige nicht rein ornamentale Bestand-
teil des ganzen Schmuckes — in Bogen- oder Tympanonfeldern, welche an die
alte Arkadenform erinnernd innerhalb des Oberbaues ausgespart sind, die Brust-
bilder des Autors und des Adressaten einander gegenübergestellt.
Was den Titelschmuck der einzelnen Evangelien anlangt, so lassen noch die
der jüngsten Handschrift F entnommenen Proben auf Tafel 52 den Zusammen-
hang einer allerdings mannigfach weiterbildenden Tradition deutlich hervortreten,
die rückwärts zu dem Tübinger Evangelienbuch des XII. Jahrhunderts hinaufweist.
Die dort rechteckigen Zierleisten über den Textanfängen haben deutlich den Charakter
teppichartiger Draperien angenommen, deren Flächenfüllung sich eng mit derjenigen
berührt, welche die Oberbauten der Kanones - „Kamaren" aufweisen. Die hohe
Längshasta eines Ornamentalkreuzes, das sich rechts neben dem Text der älteren
Handschrift erhob, hat in unserer Gruppe die Form einer mit Blättern, Ranken und
Blumen reich geschmückten Art von Kandelaber angenommen, die auch noch neben
der Zierleisten-Draperie weiter aufsteigt und erst ganz oben ein kleines Kreuzchen
trägt4). Die ganze erste Textzeile wird abgesehen von dem Anfangsbuchstaben in
den bezeichnenden Fisch-Vogelbuchstaben geschrieben, in welchen sich die armenische
Kunst auffallend mit der Art vorkarolingischer Buchmalerei des Abendlandes be-
rührt5). Die eigentliche Initiale wird mit Hilfe des betreffenden Evangelisten-
symbols gebildet, das in der Tübinger Handschrift noch in einer loseren Verbindung
mit der selbst aus rein ornamentalen Motiven zusammengesetzten steht. Zwei das

(1) Vgl. Strzygowski, Byzantinische Denkmäler I, S. 78. Griechisch xa^d^a bezeichnet das „Ge-
wölbe" z. B. der Halbkalotte einer Kirchenapsis.

(2) Vgl. Strzygowski, Kleinarmenische Miniaturenmalerei S. 24.

(3) Ich zitiere beispielsweise mit der spitzen hohen Kappe von Altardienern ausstaffierte Hunde (und
Affen ?), welche Leuchter mit brennenden Kerzen halten, und ein sehr realistisch gegebenes zanken-
des Ehepaar.

(4) Dieses Seitenornament samt einer zur Draperie umgewandelten Titelleiste auch schon aus einer im
Jahre 1375 ausgemalten Bibel, Nr. 14 der Mechitharistenbibliothek in Wien, bei Strzygowski, Byzan-
tinische Denkmäler I, S. 1.

(5) Vgl. Strzygowski a. a. O. S. 92.

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