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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

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die vorher zugunsten des Gesichtes etwas vernachlässigt war, nun erst nach-
zuholen wäre.
Mehr als bei der Ausbildung von Geste und Mimik können wir in dem all-
gemeinen Ausdruck der Figuren, besonders in der seelischen Auffassung der ganzen
Szene einen Fortschritt erkennen. Früher als Geste und Mimik wirklich frei und
beseelt sind, empfinden wir ganz allgemein das seelische Leben, das der Künstler
seinen Figuren verliehen hat. Es ist dies ein Beweis dafür, daß das allgemeine
seelische Empfinden im Laufe dieser Entwicklung früher zur Ausbildung kommt,
als die technische und formale Fähigkeit, diesem Empfinden auch die äußere
Gestalt zu geben. Und andererseits werden wir sehen, daß die Künstler erst zu
freierer Beherrschung der Ausdrucksmittel kommen mußten, ehe sich die allgemeine
seelische Empfindung in einzelne, bestimmte seelische Regungen gliedern und deut-
lich ausprägen konnte. Selbst an den Kreuzigungsszenen können wir einen Fort-
schritt zu seelischer Vertiefung erkennen. Bei den Figuren von Maria und Johannes
wird der Ausdruck des Schmerzes immer tiefer und inniger, und der gekreuzigte
Christus, der noch in Halberstadt nur ein starres Symbol ist, hat in Dresden schon
den Ausdruck erhabener Ruhe, in Wechselburg den eines sanften Schmerzes er-
halten. An der Wechselburger Gruppe treten die Figuren auch schon ein wenig
in innere Beziehung zueinander, aber der repräsentative Charakter der Gruppe ver-
hindert noch ein freies Zusammenklingen der Seelen, wie es später mit so ge-
waltiger Wirkung in Naumburg geschieht. Ebenso ist auch der religiös-symbolische
Charakter dieser Gruppe die Ursache, daß der dramatische Charakter, den diese
Szene eigentlich verlangt, nicht zur Darstellung kommt. Auch das geschieht erst
in Naumburg. Besser gelingt dem Künstler schon eine Erzählung epischer Art,
wie z. B. die an den Seitenwänden der Wechselburger Kanzel. Hier treten die
Personen schon mehr in innere Beziehung zueinander und handeln mit naiver Leb-
haftigkeit. Diese innere Beziehung der Personen überwindet an der Vorderseite
der Kanzel sogar die tektonischen Umrahmungen, die die Figuren voneinander
trennen. An dem Tympanon der Freiberger goldenen Pforte tritt dann auch in
der Gesamtauffassung jener Konflikt ein, der schon vorher in den Unterschieden
der psychologischen Charakterisierung und der Geste zum Ausdruck kam. Die
Figuren treten nicht in geistige Wechselwirkung miteinander, obgleich gerade diese
Szene eine solche am meisten verlangte. Auch hier hat der psychologische Naturalismus
noch nicht seine Vollendung erreicht.
Wenn wir nun aber versuchen, diese Entwicklungslinie zu den Naumburger Bild-
werken weiter zu führen, so zeigt sich uns noch mehr als bei den Entwicklungs-
linien des Naturalismus und des malerischen Stils, daß hier nicht ein allmählicher
Übergang geschieht, sondern ein gewaltiger Sprung. Hier sind nun die Mittel des
seelischen Ausdrucks von größter Mannigfaltigkeit, und zwar geschieht die Mit-
teilung innerer Vorgänge nicht mehr nur durch Arme und Hände, sondern durch
das Stehen, die Haltung, den ganzen Körper der Personen. Hier in Naumburg
tritt auch eine besondere und für den Ausdruck sehr wirksame Art der Geste auf,
die indirekte Geste. Das heißt, die seelische Regung wird nicht mehr durch die
Geste selbst zum Ausdruck gebracht, sondern durch die Art und Weise, wie irgend
eine Bewegung ausgeführt wird, z. B. wie die Männer ihre Waffen, die Frauen
ihre Gewänder halten, je nach ihrem Charakter und ihrer augenblicklichen Emp-
findung. Auch die Gewandlinien sind hier voll tiefer Beseelung. Vor allem aber
läßt uns hier der Ausdruck der Gesichter einen Blick in die Tiefe und die
mannigfaltigen Regungen der men schlischen Seele tun, wie nie zuvor. Denn
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