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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

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hier wird nun nicht mehr nur allgemein ein seelisches Leben, sondern werden
bestimmte seelische Regungen dargestellt, hier haben die Gefühle nicht mehr den
religiösen Hauptton, sondern sind weltlicher geworden, alles Menschliche hat der
Künstler in seiner Seele empfunden und in seinen Gestalten lebendig werden lassen,
Freude und Schmerz, Zorn und Furcht, und all diese Regungen in ihren feinsten
Nüancen. Und ebenso hat er die Unterschiede des Geschlechts und des Alters,
der Temperamente und Charaktere in ihrer seelischen Eigenart erfaßt. Erst dieses
tiefste Eindringen in die Natur der menschlichen Seele können wir als die höchste Stufe
des psychologischen Naturalismus und damit des Naturalismus überhaupt bezeichnen.
Während aber dieser Unterschied gegen die früheren Werke zwar sehr groß,
aber doch nur gradweise ist, sind die Naumburger Werke in ihrem wichtigsten
Zug auch der Art nach von den früheren Werken verschieden. Denn der Haupt-
unterschied gegen die früheren Werke liegt darin, daß hier die allgemeine psycho-
logische Auffassung, die Darstellungsweise des Künstlers eine ganz andere ge-
worden ist. Wir hatten gesehen, daß die früheren Werke eine epische Erzählungs-
weise hatten und besonders an den Szenen der Wechselburger Kanzel und des
Freiberger Tympanons war uns dieser epische Charakter deutlich geworden. Er
bestand hauptsächlich in der ruhigen Mitteilung der Hauptmomente und in der
naiven Vorführung der Hauptpersonen der biblischen Ereignisse. Ganz anders ist
die Auffassung des Naumburger Meisters. Wie hier die Personen in leidenschaft-
licher Erregung handeln, wie sie in innige seelische Beziehung und Wechselwirkung
miteinander treten, das erinnert uns an die bewegte Handlung der Tragödie. Alle
Ereignisse sind im Augenblick der höchsten Spannung erfaßt. Die Figuren wollen
kaum noch ruhig an ihrem Standorte bleiben, die Energie ihres seelischen Lebens
treibt sie, fast in den Raum einzudringen, der sie umgibt, und ihn zum Schauplatz
ihrer Handlungen zu machen. Das ist dramatische Auffassung1).
IV. INDIVIDUALISMUS
Es ist nun gewiß kein Zufall, daß gerade in der Auffassung des Seelischen die
Naumburger Werke sich von den früheren so sehr unterscheiden. Denn noch
näher als das Verhältnis des Künstler zum Naturgegenstand und zu den formalen
Gesetzen seiner Kunst grenzt die Auffassung des Seelischen an die tiefste Grund-
lage des menschlichen Schaffens überhaupt, an die allgemeine Welt- und Lebens-
anschauung. In dieser also müssen sich jene Gegensätze schließlich am stärksten
ausprägen, und damit kommen wir zu der letzten Entwicklungslinie, die die tiefere
Begründung der drei anderen ist und sie zugleich in sich zusammenfaßt2).
Zu jener Zeit war ja noch die Religion das einzige Gefäß der Welt- und Lebens-
anschauungen. Wie sich nun die einzelnen Künstler zur Religion verhielten, das
zeigt sich uns am besten in der Auffassung der Kreuzigungsszenen. Die Auffassung
des Halberstädter und Dresdener Meisters ist symbolistisch. Das äußert sich in
der strengen Stilisierung und Symmetrie, in dem Vertikalismus und der Frontal-
stellung, auch in der Beigabe der symbolischen Gestalten, auf denen Maria und

(i) Die Szene der Stifterfiguren stellt den Ausbruch eines Zweikampfes dar. Vgl. darüber H. Berger,
Naumburg und Merseburg, Leipzig 1909, S. 34 ff. — Ich kann hier auf die psychologische Auffassung
der einzelnen Szenen nicht eingehen und behalte mir das für eine spätere Arbeit vor.

(2) Ich versuche damit, die Methoden Lamprechts und Wundts auf ein einzelnes Gebiet des Geistes-
lebens anzuwenden. Das allgemeine Eindringen dieser Methoden in die Kunstwissenschaft würde
sicherlich von großem Nutzen sein.

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