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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

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Johannes stehen, sowie (in Halberstadt) der Cherubim. Es liegt in dieser sym-
bolistischen Auffassung noch ein Nachklang aus den Anfängen germanischen Geistes-
lebens. Für diese Künstler war die Religion noch eine strenge, allgemeingültige
Form, etwas Festes und Unbedingtes, gegen das keine individuelle Regung auf-
kommen konnte. Bei der Wechselburger Kreuzigungsszene ist die Auffassung
typisch-konventionell. Es ist die Darstellung des biblischen Ereignisses durch
Menschen von allgemeinem Typus und durch die traditionellen Formen in Aus-
druck und Ezählungsweise. Die Religion dieses Künstlers entsprach dem Geist
jener Zeit. Sie war nicht mehr eine herrische Forderung von oben, sondern die
Erfüllung eines allgemein-menschlichen Bedürfnisses. Diese mildere Auffassung der
Religion kommt auch an der Wechselburger Kanzel und an der Freiberger goldenen
Pforte zum Ausdruck. Selbst die dogmatische Szene an der Vorderseite der Kanzel
hat viel von ihrer hieratischen Strenge verloren. Beim Anblick der Naumburger
Kreuzigungsszene aber vergessen wir Dogma und Tradition, da erleben wir per-
sönlich das Ereignis mit, wie es der Künstler in seiner Phantasie erlebt hatte, ein
Ereignis von höchster Tragik. Wir fühlen mit, welche Qualen dieser sterbende
Held erleidet, und unser Mitleid wird noch stärker durch den ergreifenden, ganz
persönlich empfundenen Schmerz der Mutter und des Jüngers. Das ist individualistische
Auffassung und weist weit hinaus über die Grenzen jener Zeit. Für diesen Meister
war das biblische Ereignis kein dogmatisches Symbol und keine traditionelle Er-
zählung, sondern ein wirkliches Erlebnis, und wenn ihm die göttlichen Personen
Symbole waren, so waren sie es höchstens dafür, daß zu allen Zeiten der Mensch
leidet und andere mit ihm leiden.
Mit dieser Auffassung von der Religion ist die vom Menschen eng verbunden.
In den Werken von Halberstadt und Dresden hatte die Darstellung des Menschen
dazu gedient, Symbol des Göttlichen zu sein, in dem Wechselburger Werk war
das Göttlich-Erhabene ins Einfach-Menschliche übertragen, der Naumburger Meister
erkennt das Göttliche wie das Allgemein-Menschliche in der persönlichen Eigenart
des einzelnen Menschen, ihm ist das Höchste, was die Kunst darzustellen vermag,
nicht das Unfaßbare, Übersinnliche, auch nicht das Typische eines allgemeinen
Menschentums, sondern die lebendige Gegenwart der menschlichen Seele.
SCHLUSS
So erkennen wir im Individualismus das Ziel, dem die Entwicklung der sächsischen
Plastik seit dem Anfang des XIII. Jahrhunderts zustrebt. Alles, was sich in den
früheren Werken dieser Zeit vorbereitet, es ist die Form, die dann, in den Naum-
burger Werken, den Geist des Individualismus aufnehmen sollte. Denn nun er-
kennen wir auch, daß schon die anderen Elemente dieser Entwicklung indivi-
dualistischer Art sind. Individualismus ist es, wenn — im Naturalismus — die
einzelne Form sich der verallgemeinernden Stilisierung widersetzt und gegenüber
der unterordnenden Idee ihr Recht verlangt. Individualismus ist es auch, wenn —
im malerischen Stil — die Plastik sich von den tektonischen Fesseln befreit, um
ihr eigenes Leben zu führen. Individualismus ist es schließlich, wenn in der Dar-
stellung des Menschen nicht mehr die äußere Gestalt genügt, — denn Gestalt hat
der Mensch mit allen Dingen der Natur gemeinsam —, sondern wenn der Mensch
durch innere Beseelung über die Natur hervortritt zu einem Dasein von besonderer
Art, und wenn ferner der einzelne Mensch in seinem seelischen Eigenleben sich
von der Menge der anderen unterscheidet.

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