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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

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ENTWICKLUNGSLINIEN IN DER SÄCHSI-
SCHEN PLASTIK DES XIII. JAHRHUNDERTS
.Von KURT FREYER
EINLEITUNG
Mit dem Begriff der Entwicklung verbindet sich in unserer Anschauung von
der Natur wie vom Geistesleben leicht die Meinung, daß der Rhythmus, in
dem die Entwicklung fortschreitet, immer der gleiche sei. Wie man aber in der
Naturwissenschaft den Gedanken aufgegeben hat, daß „die Natur keine Sprünge
macht", so werden wir auch in der Geschichte suchen müssen, zu verstehen, wie
der Geist bald mit Riesenschritten durch die Geschichte schreitet, bald im gewohnten
Geleise des Mittelmäßigen ruhig dahinzieht, ohne daß ein Fortschritt zu Neuem
oder gar Höherem erkennbar wäre. Die Ursache dieses wechselnden Rhythmus
ist die Ungleichheit der geistigen Kraft in den einzelnen Individuen. Daher vermag
es oft ein einziger Genius, auf einmal das Rad der Entwicklung um ein gewaltiges
Stück vorwärtszudrehen.
Solch ein Genius war der Meister der Naumburger Bildwerke. Was er erschafft,
ist, verglichen mit den vorhergehenden Bildwerken des XIII. Jahrhunderts, etwas
völlig Neues. Zwar ist dieses Neue in jenen Werken schon vorgeahnt, in schwachen
Andeutungen vorgebildet. Aber diese Andeutungen sind noch eingehüllt in die
Formen der entgegengesetzten Anschauungsweise. So sei zunächst der Gegensatz
zwischen diesen und den Naumburger Werken betont, bevor die Entwicklung von
jenen zu diesen dargestellt wird, und diejenigen Elemente in den früheren Werken
aufgesucht werden, die den Stil der Naumburger Werke vorbereiten.
Auf diesen Gegensatz weist schon der starke zeitliche Einschnitt hin, der zwischen
den früheren und den Naumburger Werken besteht. Um die Zeit 1220—30 war
die bildnerische Tätigkeit in Sachsen noch lebhafter, als sie schon seit dem Ende
des XII. Jahrhunderts gewesen war. Denn auf dieses Jahrzehnt konzentrieren sich
alle Hauptwerke der Gruppe, die den Naumburger Werken vorangeht: die großen
Lettnerkreuze (Kruzifixus mit Maria und Johannes) von Halberstadt (Dom), Dresden
(im Museum des Altertumsvereins, aus Freiberg stammend) und Wechselburg, die
Kanzel in Wechselburg, die goldene Pforte in Freiberg und das Grabmal Heinrichs
des Löwen und seiner Gemahlin im Dom zu Braunschweig. Diese Reihenfolge
soll zugleich die Folge in der künstlerischen Entwicklung bezeichnen, die ja mit
der Chronologie nicht durchaus übereinzustimmen braucht1). Der Fortschritt von
den ersten bis zu den späteren Werken dieser Gruppe ist nicht gering, nähert sich
immer mehr den Naumburger Werken.
Auch die weniger bedeutenden Werke dieser Gruppe gehören in die Zeit von
1220—30. Das Kruzifix in der Liebfrauenkirche zu Halberstadt wäre etwa zwischen
das Dresdener und Wechselburger Kruzifix zu setzen, die Vorstufen des Braun-
schweiger Grabmals bilden die Grabmäler des Wiprecht von Groitzsch in Pegau,
des Dedo und seiner Gemahlin in Wechselburg, und einer Äbtissin in Quedlinburg.
(1) Ich kann mich hier auf eine Erörterung der Datierung nicht einlassen, über die ja bei den einzelnen
Autoren (Bode, Schmarsow, Goldschmidt und Hasak, der aber ganz unzuverlässig ist) die größte
Meinungsverschiedenheit herrscht. Hier handelt es sich nur um die Frage, welchen Platz in der
stilistischen Entwicklungsreihe die einzelnen Werke einnehmen.

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