Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

Zitierlink:
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/monatshefte_kunstwissenschaft1911/0312
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
fremden Eindringlinge entgingen. Seither hat man nichts mehr von dem Haupt-
bild und von den Fragmenten vernommen. Bei Gelegenheit der Ausstellung
altumbrischer Kunst in Perugia tauchte 1907 ein angebliches Fragment des Werkes,
die Figur eines segnenden Gottvaters, auf. Das Stück trug alle Kennzeichen der
Schule Raffaels, müßte aber der spätesten Epoche des Meisters, der Zeit der
Loggienmalereien zugewiesen werden. Glücklicherweise befindet sich noch jetzt
in Cittä di Castello die Kopie des unteren Teiles, die der Maler Ermenegildo
Costantini 1791 vor dem Verkauf des Bildes angefertigt hat1) und die Gronau auf
S. 199 abbildet.
Die Kopie stellt innerhalb einer Pilasterarchitektur den heiligen Nikolaus von
Tolentino im schwarzen Ordenshabit der Eremitaner dar, das Haupt leicht nach
links geneigt. In der Rechten hält der Heilige ein Kruzifix, in der Linken ein ge-
öffnetes Buch mit den Worten aus dem Evangelium Johannis Kap. XV, Vers 10,
„Precepta patris mei servavi, ideo maneo in eius dilectione", die Luther mit den
Worten übersetzt: „So ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe,
gleich wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe." Zu
seinen Füßen liegt ein gefesselter Dämon in Menschengestalt, der sich mit den
Händen an das Ordenskleid des Heiligen klammert. Der Kopf des Dämons ist
zum Teil verdeckt durch zwei Engel, welche von rechts herzugetreten sind und
Spruchbänder halten. Links ein dritter Engel, gleichfalls mit Spruchband.
Wenn wir auch annehmen dürfen, daß die Kopie in der Hauptsache getreu ist,
so stimmt sie doch gewiß nicht in allen Einzelheiten mit dem Urbilde überein,
denn der junge Raffael hätte sicherlich die Pilaster nicht ohne Schmuck gelassen.
Und in der Tat schreibt Lanzi, daß die Handlung in einem Tempel vor sich ging,
dessen Pilaster im Stile des Mantegna verziert waren. Der Kopist mag diese
Dekorationen fortgelassen haben, um sich Mühe und Zeit zu sparen, möglich ist
aber auch, daß die Augustinermönche gern die Kosten der Kopie herabmindern
wollten und deshalb auf diese Dekorationen und auf die Wiedergabe des oberen
Teiles verzichteten, der besonders beschädigt war. Von diesem oberen Teile des
Gemäldes geben die noch vorhandenen Zeichnungen Raffaels in Oxford und in
Lille eine gewisse Vorstellung, ganz besonders eine der Liller Studien, welche, mit
dem Quadratnetz bedeckt, wohl zur Ausführung der ersten Fassung benutzt wurde,
die später allerdings Modifikationen erfuhr2).
Verschiedene andere Skizzen des jungen Künstlers aus diesen Jahren geben
Kunde von fleißigen Studien nach anderen Meistern. Neben dem unbedeutenden
Francesco Tifernate hat er auch den charaktervollen Luca Signorelli kopiert, und
einige Bogenschützen aus Signorellis Martyrium des heiligen Sebastian finden wir
zuerst schüchtern auf dem Blatt in Lille und dann freier und sicherer auf einer
Oxforder Zeichnung reproduziert.
Die erste Fassung des oberen Teiles in Lille zeigt die Halbfigur eines Jünglings
in einer Mandorla, zu den Seiten je einen männlichen und weiblichen Heiligen,
alle drei mit Kronen in der Hand. Aus dem die Krone überreichenden Jüngling
wurde später, vielleicht auf Wunsch des Auftraggebers, ein bärtiger Gottvater, von
einer Engelsglorie umgeben. Auf der Rückseite des genannten Liller Blattes ist
die Figur eines Greises skizziert, vielleicht die erste Studie zu dem Gottvater.
Diesen finden wir dann noch einmal, als Mantelfigur, auf einer Oxforder Zeichnung.

(1) Auf der Rückseite der Kopie ist die Inschrift zu lesen: Copia fatta da un originale di Raffaello in
oggi in Roma da Ermenegildo Costantini l'anno 1791.

(2) Abgebildet bei Morelli-Lermolieff p. 367.

298
 
Annotationen