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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 4.1911

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herkömmlichen Landschaftsanschauung des 17.Jahr-
hunderts. Alle Farben und Formen sind bei ihm
aufgelöst in Buntheit und Bewegung. Auch
Haller, den Kammerer noch eingehender wür-
digt, liebt Buntheit und Bewegung, aber in anderer
Art als Hagedorn. Er hat ein weit stärkeres
Farbenempfinden als dieser. Er sucht über die
enggezogenen Grenzen der Schäferlandschaft, die
Hagedorn bevorzugt, hinauszublicken. Er gibt
der deutschen Dichtung durch das Hineinziehen
des Gebirges einen neuen Inhalt. Das höchst
eigentümliche Verhältnis der Menschen zum Ge-
birge vor Haller, erörtert Kammerer in einem sehr
lehrreichen Exkurs. Haller ruft durch seinen Vor-
gang eine eminente Steigerung der realistischen
Landschaftsschilderung hervor, die ihren ersten
Höhepunkt in Rousseau erreicht. Und doch ist
das Hochgebirge nicht ein Symbol von Hallers
Seele: wenn er die Dämmerung besingt, die des
Himmels Farben bricht, und die nächtlichen
Schatten, dann erst offenbart sich der wahre Haller,
dann vermag er, der „die lächelnde Freude nie
empfunden", die Züge der Landschaft nach der
Form seiner Seele umzubilden. Das geschieht
noch nicht in seinem einflußreichsten Gedicht,
den „Alpen", sondern vor allem in dem gran-
diosen Fragment „Über die Ewigkeit". Die per-
sönlich-seelische Auffassung der Landschaft und
verinnerlichtes Gefühl finden wir dann vollkommen
ausgeprägt bei Klopstock.
Merkwürdig, daß Kammerer an den gleichzei-
tigen Strömungen in den Naturwissenschaften und
in der Philosophie nahezu achtlos vorübergegangen
ist. Bei Haller muß man doch von vornherein
voraussetzen, daß der Gelehrte mit dem Dichter
im engsten Bunde stand. Aber auch Brockes
hatte nahe Beziehungen zu den beiden Wissen-
schaftsgebieten. Gewiß waren ihm die mikrosko-
pischen Forschungen Leeuwenhoeks vertraut, der
zum erstenmal festgestellt hatte, daß es in dem
winzigsten Wassertropfen fast eine Unendlich-
keit kleiner Tiere gebe. Und vor allem: die ge-
samte Naturanschauung des frühen 18.Jahrhunderts
ist bestimmt durch Leibniz, der die mechanisti-

schen Theorien Descartes' und seiner Schüler ab-
gelöst hatte durch die Einführung des Organismus-
begriffs. Man bedenke, was es heißen wollte und
wie anregend es gerade auf Künstlerseelen wirken
mußte, wenn nunmehr die Losung lautete: „Toute
la nature est pleine de vie". Hermann Michel.
AUGUSTE RODIN, L'Art, Entretiens
reunis par Paul Gsell. Ouvrage du for-
mat 15X21 orne de plus de 100 illustra-
tions dans le texte et hors-texte et de des-
sins inedits du maitre Bernhard Grasset,
Paris 6.
Wenn große Künstler das Wort ergreifen, um
ihre Anschauungen über die Kunst, über Gott und
die Welt, den Menschen mitzuteilen, so ist das
immer wertvoll, geistreich und anregend. So kann
dieses Werk allen Kunstfreunden und insbesondere
allen Verehrern Rodins aufs Angelegentlichste emp-
fohlen werden; es kann als eine wertvolle Ein-
führung in Rodins Kunst gelten und vermag uns
das Verständnis seines Wesens vertiefen und er-
weitern. Zu den Illustrationen seiner eigenen
Werke gesellen sich Reproduktionen nach Werken
der Antike, Michelangelos, Gericaults, Watteaus,
Rembrandts, Raffaels, Velasquez' und anderer von
Rodin geliebter Meister, über die er zu Paul Gsell
gesprochen hat. Mit Adolf Hildebrands Problem
der Form lassen sich Rodins zwanglosere Unter-
haltungen nicht vergleichen; sie sind leichter und
ohne jede didaktische Absicht geschrieben. Aber
vielleicht wird gerade darum dieses Buch sich ein
großes Publikum werben. Es soll auch nicht ver-
schwiegen werden, daß manche der klugen und
feinen Gedanken und Beobachtungen sich bereits
in dem älteren komprimierteren Buche von Judith
Cladel finden. Und auch vieles, was ich in meiner
Rodin-Biographie aus Gesprächen notierte, ist hier
noch einmal wiederholt worden. Paul Gsell ver-
öffentlichte seine Gespräche mit Rodin zuerst in
den letzten beiden Jahrgängen der Pariser Zeit-
schrift „La Revue". Otto Grautoff.

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