Hatte man es in Belgien vor allem auf die Meisterwerke von Rubens und Van-
dyck abgesehen gehabt, so dachte man bei der Beraubung Italiens vor allem an
Raffael und Michelangelo. Sogar Bonaparte scheint von der Kunst Michelangelos
einen hohen Begriff gehabt zu haben. Der Name des großen Florentiners be-
gegnet uns zweimal in seinen Berichten nach Paris, beide Male allerdings in
falscher Beziehung. Einmal behauptete er nämlich, dass sich Werke Michelangelos
auch unter den Mailänder Trophäen befänden, ein andermal rühmte er, daß die
hl. Cäcilie Michelangelos aus Bologna nach Frankreich abgesandt worden sei1).
Tatsächlich ist Michelangelo im Musee Napoleon nur mit einem einzigen Werk,
der Madonna von Brügge vertreten gewesen, die aber in zeitgenössischen Be-
richten nirgends erwähnt wird und, wie es scheint, nicht einmal ausgestellt worden
ist2). Raffael dagegen erlebte in Paris eine der glorreichsten Episoden seiner
Zeiten und Völker überdauernden Kunst.
Italien ausgenommen besaß schon vor der Revolution kein Land eine so glän-
zende Sammlung von Werken Raffaels wie Frankreich. Schon Franz I. glückte
der Ankauf einiger Hauptwerke: der schönen Gärtnerin, der großen hl. Familie,
der hl. Margarethe, des großen hl. Michael, des Porträts der Johanna von Ara-
gonien und jenes vielfach angezweifelten Doppelbildnisses, das man Raffael und
seinen Fechtmeister nennt. Ludwig XIV. vervollständigte die einzigartige Samm-
lung. Er erwarb die kleine hl. Familie, den Johannes in der Wüste und das
Jünglingsporträt und brachte außerdem die Perlen der Mazarin-Sammlung an sich:
das Porträt Castigliones, den kleinen hl. Michael und sein Gegenstück, den hl. Georg.
Unter Ludwig XV. endlich gelangte noch die Madonna mit dem Schleier in den
Besitz der Könige von Frankreich8).
Diese einzigartige Sammlung zu ergänzen, bot sich nun den Überwindern Italiens
eine einzigartige Gelegenheit dar. Es ist ihnen in der Tat gelungen, sich fast
alles anzueignen, was Italien in seinen Kirchen und Palästen an beweglichen
Bildern des Urbinaten besaß, und wenn die Fresken Raffaels im Vatikan zurück-
blieben, so wurden sie nur durch die Unmöglichkeit gerettet, Fresken wie Tafel-
bilder ohne weiteres in Kisten zu verpacken4).
(i) Sorel Albert, L'Europe et la revolution franqaise. Paris 1903, V, S. 84/85. Daß Bonaparte die
weltberühmte hl. Cäcilie Raffaels dem Michelangelo zugeschrieben hatte, war den Italienern nicht ent-
gangen und empörte sie. Vgl. [Becatini] Storia del memorabile trienniale Governo Francese e sedi-
cente cisalpino nella Lombardia. Milano 1799, S. 159 und Ren6 Schneider, Quatremere de Quincy
et son intervention dans les arts (1788—1830), Paris 1910, S. 164, Anm. 2.
(2) „La statue de Michel-Ange" wird als erstes Stück der an Brügge im November 1815 zurück-
gegebenen Kunstobjekte aufgeführt. Vgl. Piot, Rapport etc., Bruxelles 1883, S. 354. Die Sklaven
Michelangelos waren im Musee des monuments Francais aufgestellt. Im Musee Central wurden
den Fremden die drei Parzen des Palazzo Pitti als Originalwerk Michelangelos vorgeführt. Eine
Kreuzigung Christi, „von Michelangelo das einzige unzweifelhafte Gemälde, das Frankreich be-
sitzt", wurde in der Galerie von Lucian Bonaparte gezeigt. Vgl. Helmina von Hastfer, Leben und
Kunst in Paris seit Napoleon dem Ersten. Weimar 1805. I, 186, und Joh. Fr. Reichardt, Vertraute
Briefe aus Paris, geschrieben in den Jahren 1802/3. Hamburg 1805, 2. Aufl., I, 131.
(3) Seymour de Ricci, Description raisonnee des peintures du Louvre. Paris 1913, S. I22ff.
(4) Auch die Überführung der Trajanssäule nach Paris wurde ernstlich erwogen. „Il parait que
vous renoncez ä la colonne Trajane," schrieb Daunou am 20. März 1798 aus Rom nach Paris, „au
fond ce serait une entreprise extremement dispendieuse." Vgl. Taillandier, Documents biographiques
sur P. C. F. Daunou. Paris 1847, S. 124. „Si la peinture avait besoin de ces grandes fresques, qui
ornent encore le Vatican, immenses compositions oü brille tout le genie de Raphael, il suffit ä la
republique francaise de les desirer pour les acquerir", schrieb der General Pommereul, L'art de voir
dans les Beaux Arts, traduit de l'italien de Milizia. Paris, an 6 de la republique [1798], S.315.
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dyck abgesehen gehabt, so dachte man bei der Beraubung Italiens vor allem an
Raffael und Michelangelo. Sogar Bonaparte scheint von der Kunst Michelangelos
einen hohen Begriff gehabt zu haben. Der Name des großen Florentiners be-
gegnet uns zweimal in seinen Berichten nach Paris, beide Male allerdings in
falscher Beziehung. Einmal behauptete er nämlich, dass sich Werke Michelangelos
auch unter den Mailänder Trophäen befänden, ein andermal rühmte er, daß die
hl. Cäcilie Michelangelos aus Bologna nach Frankreich abgesandt worden sei1).
Tatsächlich ist Michelangelo im Musee Napoleon nur mit einem einzigen Werk,
der Madonna von Brügge vertreten gewesen, die aber in zeitgenössischen Be-
richten nirgends erwähnt wird und, wie es scheint, nicht einmal ausgestellt worden
ist2). Raffael dagegen erlebte in Paris eine der glorreichsten Episoden seiner
Zeiten und Völker überdauernden Kunst.
Italien ausgenommen besaß schon vor der Revolution kein Land eine so glän-
zende Sammlung von Werken Raffaels wie Frankreich. Schon Franz I. glückte
der Ankauf einiger Hauptwerke: der schönen Gärtnerin, der großen hl. Familie,
der hl. Margarethe, des großen hl. Michael, des Porträts der Johanna von Ara-
gonien und jenes vielfach angezweifelten Doppelbildnisses, das man Raffael und
seinen Fechtmeister nennt. Ludwig XIV. vervollständigte die einzigartige Samm-
lung. Er erwarb die kleine hl. Familie, den Johannes in der Wüste und das
Jünglingsporträt und brachte außerdem die Perlen der Mazarin-Sammlung an sich:
das Porträt Castigliones, den kleinen hl. Michael und sein Gegenstück, den hl. Georg.
Unter Ludwig XV. endlich gelangte noch die Madonna mit dem Schleier in den
Besitz der Könige von Frankreich8).
Diese einzigartige Sammlung zu ergänzen, bot sich nun den Überwindern Italiens
eine einzigartige Gelegenheit dar. Es ist ihnen in der Tat gelungen, sich fast
alles anzueignen, was Italien in seinen Kirchen und Palästen an beweglichen
Bildern des Urbinaten besaß, und wenn die Fresken Raffaels im Vatikan zurück-
blieben, so wurden sie nur durch die Unmöglichkeit gerettet, Fresken wie Tafel-
bilder ohne weiteres in Kisten zu verpacken4).
(i) Sorel Albert, L'Europe et la revolution franqaise. Paris 1903, V, S. 84/85. Daß Bonaparte die
weltberühmte hl. Cäcilie Raffaels dem Michelangelo zugeschrieben hatte, war den Italienern nicht ent-
gangen und empörte sie. Vgl. [Becatini] Storia del memorabile trienniale Governo Francese e sedi-
cente cisalpino nella Lombardia. Milano 1799, S. 159 und Ren6 Schneider, Quatremere de Quincy
et son intervention dans les arts (1788—1830), Paris 1910, S. 164, Anm. 2.
(2) „La statue de Michel-Ange" wird als erstes Stück der an Brügge im November 1815 zurück-
gegebenen Kunstobjekte aufgeführt. Vgl. Piot, Rapport etc., Bruxelles 1883, S. 354. Die Sklaven
Michelangelos waren im Musee des monuments Francais aufgestellt. Im Musee Central wurden
den Fremden die drei Parzen des Palazzo Pitti als Originalwerk Michelangelos vorgeführt. Eine
Kreuzigung Christi, „von Michelangelo das einzige unzweifelhafte Gemälde, das Frankreich be-
sitzt", wurde in der Galerie von Lucian Bonaparte gezeigt. Vgl. Helmina von Hastfer, Leben und
Kunst in Paris seit Napoleon dem Ersten. Weimar 1805. I, 186, und Joh. Fr. Reichardt, Vertraute
Briefe aus Paris, geschrieben in den Jahren 1802/3. Hamburg 1805, 2. Aufl., I, 131.
(3) Seymour de Ricci, Description raisonnee des peintures du Louvre. Paris 1913, S. I22ff.
(4) Auch die Überführung der Trajanssäule nach Paris wurde ernstlich erwogen. „Il parait que
vous renoncez ä la colonne Trajane," schrieb Daunou am 20. März 1798 aus Rom nach Paris, „au
fond ce serait une entreprise extremement dispendieuse." Vgl. Taillandier, Documents biographiques
sur P. C. F. Daunou. Paris 1847, S. 124. „Si la peinture avait besoin de ces grandes fresques, qui
ornent encore le Vatican, immenses compositions oü brille tout le genie de Raphael, il suffit ä la
republique francaise de les desirer pour les acquerir", schrieb der General Pommereul, L'art de voir
dans les Beaux Arts, traduit de l'italien de Milizia. Paris, an 6 de la republique [1798], S.315.
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