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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 10.1917

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Mâle, Emile: Studien über die deutsche Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.73982#0055

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Man fühlt den innern Riß. Vergebens ist er bemüht, sich zu beruhigen, er weiß,
er vertritt eine verlorene Sache.
Die deutschen Archäologen des letzten Jahrhunderts vermochten sich einige Illu-
sionen zu bewahren, weil sie die deutsche Kunst schlecht und die französische noch
schlechter kannten. Aber eine neue Generation ist erschienen, gelehrter, ver-
gleichsfähiger, die eingesehen hat, daß es vergebens ist, mit der Wahrheit Versteck
zu spielen. Jeder neue Vergleich bewies den Augenschein glänzender. Zwei
Männer, Dehio und Bezold, haben endlich versucht, ihren Landsleuten die Wahr-
heit zu sagen1). Sie haben es eingestanden, daß die Kunst des 13. Jahrhunderts
nichts anderes war, als eine Nachahmung der französischen Kunst. Wahr ist es,
daß sie zu trösten versucht haben durch einige Redensarten wie die folgenden, die
ich verständlich zu machen versuchen werde: „Die Gotik ist nicht aus den erb-
lichen Sondereigenschaften dieser oder jener Nation hervorgegangen, sondern aus
den allen Nationen gemeinsamen Forderungen der Zeit; sie war die Gegenbewegung
des europäischen Gemeingefühls gegen den in der vorausgegang^nen Epoche ins
Unendliche verästelten Individualismus der Völker und Stämme, ein neutraler, ein
kosmopolitischer Stil, und eben deshalb konnte den Franzosen, d. h. einem ge-
mischten, aber die Mischung doch schon zu ganz besimmten Charakterzügen ver-
dichtenden Stamme, die Formulierung zuerst gelingen." Ist das nicht bewunderns-
wert? Die Franzosen sind es zwar, die den gotischen Stil erfunden haben, aber
ebensogut hätte jeder, die ganze Welt ihn, erfinden können, denn der. gotische Stil
ist ein Allerwelts-Stil. Damit ist eine vorzügliche Probe gegeben von den Behaup-
tungen, zu denen ein deutscher Gelehrter sich versteigen kann, der im übrigen
ein guter Beobachter ist, wenn die nationale Eigenliebe auf dem Spiel steht. Man
sieht aber, wie schwer ihnen das Eingeständnis wird.
Aber lassen wir ihnen dieses unschuldige Pathos. Das Wesentliche ist, daß
Deutschlands Nachahmerei erkannt und zugestanden wird. Wir werden nicht ver-
fehlen dieses Zugeständnis in den folgenden Seiten zu verzeichnen.
II.
Wie jedermann heutzutage weiß, ist das Grundprinzip der gotischen Architektur
das spitzbogige Kreuzgewölbe. Auf die so massive, wenig elastische romanische
Wölbungsart verzichtend, schlugen die Architekten über jeder travee zwei Bogen,
die sich im Kreuz überschnitten, und auf diese Bogen bauten sie ihr Gewölbe.
Ein derartiges Gewölbe hat alle Vorteile für sich, es ist leicht zu erbauen,
da es kein großes Gewicht hat, und dieses Gewicht ruht nicht auf den Mauern,
sondern auf den Kreuzungen der Spitzbogen; es ist dauerhaft und wenn es sich
durch irgend einen Zufall verschiebt, so ist die Verschiebung infolge der Unab-
hängigkeit der Felder niemals durchgängig. Das Gewölbe kann allen Plänen ange-
paßt werden und die größten Räume überspannen. Es trägt die Grundbedingung
aller Fortschritte in sich, ihm ist es zu danken, wenn unsere Kirchen immer
höher, leichter und lichter wurden. So bringt die Kreuzung der Spitzbögen dem
schwierigen Problem des Gewölbes eine erschöpfende, endgültige Lösung.
Mit den ersten Jahren des 12. Jahrhunderts tauchten die Kreuzungen der Spitz-
bögen in den Kirchen der Ile de France auf. Im Jahr 1140 ensteht das älteste
der großen gotischen Baudenkmäler, nach dem Prinzip der gekreuzten Spitzbogen
(1) Dehio und Bezold, Die kirchliche Baukunst des Abendlandes. Der zweite Band über die gotische
Kunst ist 1901 erschienen.

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