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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 10.1917

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Zucker, Paul: Zur Kunstgeschichte des klassizistischen Bühnenbildes
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https://doi.org/10.11588/diglit.73982#0076
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kaum kann man noch bei den dargestellten Gebäuden und Innenräumen von
einer „Architektur" sprechen, so verwiri end fluten die Formen über die Bühne,
ungebändigt durch tektonische Fügung, aber immer tiefenillusionistisch über-
zeugend, — ein Spiel mit dem Begriff der optischen Täuschung.
Zu dieser Entwicklung steht die klassizistische Bühnendekoration in denkbar
stärkstem Gegensatz. Teilweise sogar unter bewußtem Verzicht auf die perspek-
tiv-technischen Errungenschaften der Pozzo, Bibiena und ihrer Gefolgschaft,
knüpft sie an die symmetrisch-architektonischen Bildungen des siebzehnten Jahr-
hunderts wieder an, abstrahiert vom Raum und kehrt zu einer mehr flächen-
haften Gestaltung wieder zurück. Eine, wenn auch zurücktretende Richtung der
Bühnendekoration hatte ja den Zusammenhang mit den Schöpfungen des sieb-
zehnten Jahrhunderts wenigstens in formaler Hinsicht niemals ganz aufgegeben.
Doch fügte sich diese Richtung im großen Aufbau des ganzen Raumes doch
der winkelperspektivischen Zerlegung des Bühnenbildes. Diese Hüter der Tra-
dition sahen in Übereinstimmung mit den Vertretern der eigentlichen großen
Architektur in Frankreich ihren Ausgangspunkt in Palladio — genauer gesprochen
in dessen teatro olympico zu Vicenza. Ihre zwar in palladiesk-klassizistischen
Formen, aber auf barocke illusionistische Tiefenwirkung hin komponierten Bühnen-
bilder konnten infolge dieser inneren Antinomie kaum wirken und bildeten ein
unorganisches Zwischenglied der künsterischen Entwicklung. Man verzichtete
eben nicht leichten Herzens auf die Errungenschaften Ferdinandos Bibienas.
Noch 1785 hebt Arteaga1) die durch Ferdinando eingeführte „maniera di veder
le scene per angolo" als ausschlaggebend für die ganze Geschichte des Deko-
rationswesens hervor. Er nennt ihn den „Paolo Veronese des Theaters". „Durch
ihn entfesselt sich das Theater aus der Knechtschaft, in der es die Maschinen-
meister führten."
Die Entwicklung des klassizistischen Bühnenbildes vollzieht sich nun in drei
verschiedenen Komplexen künstlerischer Umbildung. Sie sind begrifflich scharf
auseinanderzuhalten, wenn sie zeitlich auch teilweise parallel laufen. Als grund-
legend muß die stilistische Umformung des Bildeindruckes angesehen
werden, zugleich der einzige dieser Umbildungsprozesse, der sich ungefähr von
1725 an fast ein Jahrhundert lang, allmählich und organisch aus Gegebenem
erwachsend, abwickelt. Er wird gekennzeichnet durch die Namen Servandoni,
Dumont, Piranesi, Basoli — eine Nebeneinanderstellung, die ebenso wie die noch
folgenden keine Wertung bedeuten soll. Als zweites muß der Versuch einer
architektonisch-dispositionellen Umformung betrachtet werden, wie
er in einer Reihe von Reformen, die plötzlich nach 1760 einsetzten, gegeben ist.
Repräsentanten dieser Bewegung sind u. a. Arnaldi, Milizia, Morelli, Cochin.
Als dritter und letzter Komplex sind die Entwürfe anzusehen, die zu einer dimen-
sionalen Umformung der Bühne vom räumlichen zu einem reliefartigen,
mehr flächenhaften Aufbau führen wollten. Hier sind Breysig und Pujoulx,
Catel, Langhans, Weinbrenner und endlich Schinkel zu nennen.
Diese dreifache Gliederung ergibt das Skelett einer systematischen Darstellung
— einer Darstellung, die notwendiger Weise den Entwicklungsprozeß ein-
facher und folgerichtiger erscheinen läßt, als er sich in Wirklichkeit abgespielt
hat. Es darf bei allem Folgenden nicht vergessen werden, daß auch nach dem
Aussterben der Bibiena die Familien Quaglio und Gagliardi, ein Colomba und

(!) Vgl. Stefano Arteaga: Le rivoluzioni del teatro musicale italiano. Venezia 1785.

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